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bald hinab in sonnige, lachende Thäler, oder in tiefe Schluchten, auf deren Boden klare Bergwasser rauschen, über welche schwankende Stege leiten. Die schöne und in den Gründen sehr fruchtbare Gegend ist doch wenig bevölkert. Selten begegnet der Wanderer einer einsamen Hütte, der ärmlichen Wohnung eines Hirten; oder einer Heerde weidender Ziegen, die ein Bewaffneter hütet; zuweilen aber erschreckt ihn ein Trupp Araber und Drusen, der, wilden Ansehens, auf flüchtigen Rossen an ihm vorüber eilt. – Also gelangt er zu einem Plateau, das ein dichter Wald majestätischer Platanen bedeckt. Durch seinen ernsten Schatten windet sich der Weg und nach einer halbstündigen Dauer führt ihn derselbe an den Rand einer schroffen Bergwand. Ein fast kesselförmiges Thal, von einem Bach durchschlängelt, breitet in der Tiefe sich aus und an der entgegengesetzten Seite desselben, von schroffen, hohen Steinwänden beschattet, bemerkt er ein kleines Dörfchen, mit Moschee und Minaret, daneben aber die hohen Mauern zweier Klöster, mehr verfallenen Kastellen, als Gotteshäusern ähnlich. Bei diesem Anblick sinkt, von Schauer der Rührung und Ehrfurcht ergriffen, der Pilger in den Staub und betet; denn vor sich sieht er eines der heiligsten Ziele seiner Wallfahrt. Nazareth ist’s, des Heilandes irdische Heimath.

Und welcher Christ könnte, kleines Nazareth! dein Bild ohne Rührung betrachten? Waren diese unansehnlichen, verachteten Mauern es nicht, aus denen die größte geistige Revolution hervorging, die je die Erde und mehr als einen Welttheil traf? Ward nicht in einer deiner niedrigsten Hütten der Messias des Menschengeschlechts erzogen? jener Mann aus dem untersten Volke, dessen göttlicher Geist über alle irdische Hoheit erhaben, alle Hoffnungen und Wünsche und Weissagungen der Propheten zur Aufrichtung eines idealischen Reichs verwirklichte? Er stiftete nicht ein jüdisches Herrscherreich; sondern ein Reich der Wahrheit, des Rechts und der Freiheit, das nicht einem Volke, sondern allen Völkern der Welt werden sollte. –

Nazareth hat gegenwärtig etwa 900 Einwohner, und Armuth scheint seit den Zeiten des Erlösers ihr väterliches Erbtheil. Christen und Mahomedaner wohnen hier verträglich bei einander; aber kein Jude darf den geweiheten Ort betreten. Die Häuser sind klein, der Ausdruck der Dürftigkeit; die Gassen eng und im höchsten Grade unreinlich; aber die Umgebungen des Orts sind äußerst anmuthig und fast jeder Einwohner hat ein kleines Gärtchen, in dem köstliches Gemüse gedeihet, vortreffliche Trauben und Feigen reifen und die persische Rose in den höchsten Farben glüht. Obstbäume schatten über die blühenden Hecken, und an den sonnigsten, geschütztesten Stellen kommt die Palme fort und breitet auf hohem schlanken Stamm ihre Fächerkrone aus. Fünfzehn verschiedene Berggipfel erheben sich über das fruchtbare Thal, und gern überläßt man sich dem Gedanken, daß in dieser heimlichen Landschaft, voll ernster Pfade und traulicher, stiller Gründe, der erste Ahnungsstrahl einer gebenedeiten Sendung in des Heilands junger Seele gezuckt, daß hier dem denkenden Knaben und Jünglinge die hohen Vorsätze zuerst keimten und reiften, welche er als Mann zum Heile der Menschheit und