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zieren die meisten in den Hauptstraßen und geben Wohnungen, die ihrer innern Einrichtung nach nichts weniger als Palläste sind, den Schein von Pallästen. Sie sind aufgeführt nach griechischen und römischen Mustern; aber die tausend und aber tausend Verstöße gegen die Anmuth der Verhältnisse beweisen, daß die Architekten nicht verstanden, was sie gewollt. – Trotz dem sichtbaren Streben nach Mannichfaltigkeit tragen doch alle diese prächtig aussehenden Häuser etwas Barbarisch-Eintöniges an sich, welches gar bald ermüdet. Da die Stadt in einer vollkommenen Ebene liegt, folglich auch deren Terrain für das Malerische das allerungünstigste ist, so hat man gesucht, die Straßendurchsichten dadurch interessant zu machen, daß man den Blick auf irgend ein Bauwerk von reizender Form, auf die Säulenfaçade eines Palastes, oder einer Kirche, auf einen nobeln Portikus, oder einen schlanken Thurm, oder auf ein imposantes Denkmal hinleitete; aber das immer Wiederkehrende dieses Kunststücks verräth die Absicht, und das Absichtliche zerstört die ästhetische Wirkung. – Eine der schönsten Zierden der Hauptstadt sind die Kanäle, deren krystall-helle, grünlichen Gewässer nicht schnurgerade, wie in Holland, sondern in Schlangenwindungen mehre der Hauptstraßen durchziehen; aber der größte Schmuck ist die Newa selbst, ihr Hauptstrom, der in der majestätischen Breite von 1000 bis 1400 Fuß und so tief, daß mit der Fluth große Seeschiffe bis zu den Kayen in der Mitte der Stadt gelangen können, Petersburg in zwei fast gleiche Hälften theilt. Seine Ufer sind eingefaßt mit den herrlichsten Kayen der Welt, an denen Trottoirs hinlaufen von so gewaltiger Bauart, daß sie mehr für ein Gigantengeschlecht, als für die leichten kleinen Wesen gelegt zu seyn scheinen, welche auf ihnen wandeln. – Eine der längsten und prachtvollsten Straßen, die Newsky-Perspektive, hat eine eigenthümliche Zierde in zwei Reihen Bäumen, welche auf beiden Seiten längs den Häusern gepflanzt sind, die sie zur Hälfte verdecken.

Mancher wird denken, daß diese allgemeine Beschreibung doch nur von jenen Stadttheilen gelten könne, welche vorzugsweise Rang und Reichthum bewohnen. Mit nichten. Vergeblich sucht man in Petersburg jene Stadtviertel voll enger Gäßchen, Winkel und Höfe, wie sie andere Hauptstädte haben, in welche man nur einen Blick zu werfen braucht, um Elend, Armuth und Verworfenheit in allen Abstufungen vor’s Auge zu führen. Auch die geringsten Straßen sind dort breit und ohne Schmutz, die Häuser freundlich und stattlich mit allen äußern Zeichen des innern Wohlstandes. Kurz, die Illusion kann nicht vollkommener seyn. Nur hüte man sich, daraus auf die Wirklichkeit zu schließen. Dekorationen gewinnen nie beim Beschauen ihrer Rückseite.

Man könnte einwerfen, in dieser Beziehung theile Petersburg mit andern glänzenden Hauptstädten das nämliche Schicksal. Auch dort sey die Wirkung auf die Ferne berechnet, und bei einer schärfern Untersuchung verschwinde das Trugbild. Diese Bemerkung hält jedoch nicht immer Stich. London z. B. verliert nicht bei näherer Betrachtung. Es verbirgt sein Elend nicht; jeder, der es sehen mag, kann’s erschauen in seiner ganzen Tiefe. Aber wo