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dazu war folgende. Das fruchtbare Thal von Rieti litt alljährlich durch die Ueberschwemmungen des Velino so viel, daß die Einwohner am Ende verarmten. Kostbare und starke Dämme erforderten von Jahr zu Jahr größere Ausgaben, um den Strom in seinen Banden zu halten; am Ende wurde es den Bewohnern zu schwer, solche ferner zu erschwingen: die Schutzwehren verfielen. Da brach sie (unter der Consulschaft des Curius Dentatus) der von Wolkenbrüchen furchtbar angeschwollene Strom nieder, überfluthete das Thal, zerstörte die Wohnungen und begrub viele Menschen in den Wellen. Zehn Monate stand das Wasser und bedrohte die Fluren mit bleibender Versumpfung. In dieser Noth wendeten sich die Bewohner der Gegend an den römischen Staat um Hülfe. Er half, und steuerte großmüthig zu dem, den Römern der Altzeit würdigen Unternehmen, dem unbändigen Strome quer über das Plateau des Marmorgebirgs ein neues Bette zu graben und ihn in die tiefe Schlucht hinabzustürzen, aus welcher er sich in die Nera ergießt. – Die Einwohner von Interamna glaubten sich bei diesem Unternehmen in ihren Rechten gekränkt, und noch zur Zeit des Cicero führten sie deshalb einen Prozeß gegen Rieti vor dem römischen Senat; doch ohne Erfolg.

Im Laufe von zwei Jahrtausenden hatte das künstliche Bette durch Felsblöcke und Schlamm bedeutende Veränderungen erfahren, und die Ueberschwemmungen des Velino im Rücken des Falls begannen von neuem. Pabst Pius der Sechste ließ das Strombette wieder aufräumen. Dem Uebel wurde dadurch gesteuert.

Der Weg von Terni bis zum Wasserfall ist in die Felsen gehauen, und an vielen Stellen sehr beschwerlich. Lange windet sich der Pfad an der steilen Felswand eines engen Thals hin, in dessen Tiefe der mächtige Strom schäumt. Am Ende des Thals erheben sich die senkrechten Wände der Marmorfelsen, 300 bis 400 Fuß hoch. Dürftiges Gesträuch grünt in ihren Spalten, und hie und da schmücken blühende Schlinggewächse festlich ihre rauhen Seiten. In der Mitte der Felsenzinne aber ist ein weit ausgebrochenes Thor, und durch dieses stürzt sich der breite und gewaltige Velino donnernd hinab.

Der Sturz des Stroms ist noch viermal so hoch als die Cascade des Anio bei Tivoli, und unendlich gewaltiger als diese, auch viel höher als die des Rheins bei Schaffhausen. Aber mächtiger durch seine Fülle, schäumender, wasserstäubender und donnernder stürzt sich der Rhein, dessen Fall unbestritten der herrlichste unsers Welttheils bleibt.