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Luther[1] bewohnte die Wartburg elf Monate. Seinem hiesigen einsamen Aufenthalt verdanken wir eine Menge seiner segenreichsten und wichtigsten Arbeiten. Außer dem großen Werke der deutschen Bibelübersetzung schrieb er auf der Wartburg sein, so großes Aufsehen erregendes Buch gegen die Ohrenbeichte, mehre Schriften gegen den Mißbrauch der Messe und gegen die geistlichen und Klostergelübde; auch seine Auslegung der Psalmen, und der erste Theil seiner Kirchenpostille entstanden hier. Der begeisterte Mann saß in jeder Woche ganze Nächte hindurch über der angestrengtesten Arbeit, und in einer solchen Nacht geistiger Aufregung mag es gewesen seyn, als es ihm dünkte, der Teufel käme auf ihn zu, um ihn am Arbeiten zu hindern, und er entschlossen das Tintenfaß ergriff, es ihm an den Kopf zu werfen. Noch zeigt man Luther’s Stube auf dem wohlerhaltenen Ritterhause, und an der Wand den ominösen schwarzen Tintenfleck. Nach Luther’s Zeiten ist die Wartburg oft zur Verwahrung von Staatsgefangenen gebraucht, manchmal auch gemißbraucht worden. In neuester Zeit noch war sie eine Zwangswohnung politischer Gefangenen. Von der alten Burg des Landgrafen sind nur einzelne Partieen noch übrig; vom sogenannten „neuen Haus,“ 1317 erbaut, zeigt man noch die landgräflichen Wohnzimmer und den Rittersaal, in dem merkwürdige Gemälde der Fürsten, ihre Rüstungen und alte Waffen sehenswerth sind. Neben dem Rittersaale ist die Burgkapelle, deren Kanzel man nicht ohne Ehrfurcht betreten kann; denn von der nämlichen Stelle ertönte oft Luther’s salbungsvolle, begeisterte Rede an die kleine Gemeinde! Dieser Raum und ein paar zur Hälfte abgetragene, oder eingefallene, alte Thürme, ein Pferdestall und noch einige Substruktionen der Vorzeit, auf die sich neue Anbauten (unansehnliche


  1. Luther hatte vor versammelten Kaiser und Ständen des Reichs, auf dem Tage zu Worms, mit heroischem Muthe und göttlicher Kraft die Wahrheit seiner Lehre siegreich vertheidigt. Dennoch sprach Karl V., im Interesse des Pabstes und der Kirche, die Reichsacht über ihn aus, ihm blos 21 Tage sicheres Geleit bewilligend, damit er sie zur Flucht aus dem Reiche benutze. Luther, der Unerschrockene, schlug den Rückweg nach Wittenberg ein, reiste aber über Eisenach, um in dem 3 Stunden von da entfernten Dorfe Möhra, dem Geburtsorte seiner Eltern, Verwandte zu besuchen. Nach einem Aufenthalte von mehren Tagen zog er getrost des Weges weiter. Von der Geleitsfrist waren nur noch 24 Stunden übrig. Die Reichsacht lastete dann mit voller Rechtskraft auf ihn, er war vogelfrei. Jeder durfte ihn tödten, Niemand ihn schützen. – Dem Meining’schen Dorfe Altenstein vorbei führte sein Pfad durch einen dunkeln Waldgrund. Unter einer herrlichen Buche, die der Name des großen Reformators noch gegenwärtig ehrt, dort, wo ein klarer Quell den müden Wanderer zur Ruhe und Labung einladet, sah sich Luther plötzlich von zwei verkappten Rittern überfallen, die ihn nöthigten, ritterliche Rüstung anzuthun und ein Pferd zu besteigen. Auf unbekannten Waldpfaden brachten sie ihn zur Wartburg, wo sie ihm als Ritter Georg eine Wohnung und 2 Edelknaben zur Bedienung anwiesen. Diese seltsame Entführung war geschehen auf Veranlassung Kurfürst Friedrich’s des Weisen, Luther’s wahren, und um dessen Sicherheit ängstlich besorgten Freundes. Dieser sah, in Folge der Reichsacht, Luther’s Verderben voraus, und erkannte in gewaltsamer Habhaftwerdung des Unerschrockenen das einzige Mittel zu dessen Rettung.