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weichen will, wodurch die ärgerlichsten Auftritte entstehen. Die Heiligkeit des Orts ist nicht vermögend, den Sektenhaß der Priester (die armenische, katholische und lateinische Kirche theilen sich nämlich in den Gebrauch des Gotteshauses) zurückzuhalten; sie schimpfen sich gegenseitig Ketzer, Betrüger und Gotteslästerer, und beladen einander mit den gräßlichsten Verwünschungen. Die Pilger nehmen für und wider Partei, und zuletzt endigen solche Szenen gemeinlich in Handgemenge und Schlägerei. Mord und Todtschlag würden den Ort entheiligen ohne die Dazwischenkunft der türkischen Wachen, welche den streitenden Parteien mit Prügeln und Peitschenhieben Christus Lehre von der Friedfertigkeit wirksam zu erklären immer bereit sind.

Die religiösen Zeremonien, zu deren Theilnahme die Priester die Pilger einladen, sind selten der Art, daß sie den Frommen erfreuen können; meistens scheinen sie nur auf die Täuschung der gröbsten Unwissenheit und des dümmsten Aberglaubens berechnet. Die griechischen Priester z. B. geben jedem der Pilger eine Fackel in die Hand, lassen sie dann um die Grabkapelle treten, und sie selbst gehen in dieselbe hinein. Unter einer Fensteröffnung (im Innern der Kapelle) liegen in Weingeist getränkte Asbestdochte, welche sie anzünden und dann den Pilgern als die dem Grabe des Herrn entstiegene Flamme des Glaubens verkündigen. Jeder muß sich hierauf dem Fenster nahen, aus dem die Weingeistlohe herausschlägt, und seine Kerze anzünden am heiligen Feuer. Für dies Taschenspielerstückchen erheben die Priester von jedem Theilnehmenden einen Piaster. Die lateinische Kirche führt ein noch widerwärtigeres Schauspiel auf. Eine Holzpuppe, die den Erlöser vorstellen soll, schleppen die Priester unter Klaggesang der Pilger nach Golgatha, entkleiden sie da und nageln sie an’s Kreuz. Das Kreuz wird unterm Hurrah der Menge aufgerichtet, einer der Henkerknechte reicht der Puppe auf einer Lanze den Schwamm mit Wermuth, und während des Sterbeakts verkaufen die Priester die Kleider des Bildes fetzenweise an die Wallfahrer. Darauf wird die Statue wieder herabgenommen und die sorgfältig ausgezogenen Nägel gehen abermals als Eigenthum an die Meistbietenden über. Eben so der Schwamm und das Gefäß mit dem Wermuthwasser. Der hölzerne Heiland wird in ein weißes Tuch gewickelt und in Prozession fortgetragen zu einer langen Marmortafel, vermeintlich dem nämlichen Stein, auf welchem Christus gesalbt worden ist. Dort reibt man die Gestalt mit wohlriechendem Oel ein, dessen Rest die Pilger abermals kaufen. Sie wird dann zur Gruft getragen. – Bei jedem Akt dieser Komödie halten die Priester nach einander kurze Reden in arabischer, italienischer und spanischer Sprache zur Erbauung der Versammelten. Das Ganze aber endigt wie es begonnen hat, mit einer – Opferforderung.

In solchem, alles edle Gefühl im Menschen beleidigenden Geiste niedriger Habsucht, der Unduldsamkeit und Ausschließung aller Begriffe von wahrer Andacht, alles Anstandes sogar, verehrt man hier den Allmächtigen, ehrt man hier, – wo Gottes erhabener Verkündiger den Märtyrertod für die Wahrheit starb – den Heiland. –

O MISERAS HOMINUM MENTES, O PECTORA COECA!
 Lucret.