Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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das Volk die Unterdrückung. Aber furchtbarer noch hat die Nemesis dem Volke die Schandthat vergolten! – Auf die Nachricht von Ugolinos Schicksal vereinigten die Guelfen ihre Heere, und zogen, 80,000 Mann stark, vor Pisa, dessen Volksmenge in den langen Kriegen und durch eine verheerende Pest auf die Hälfte der früheren Anzahl gesunken war. Es wankte der Muth der Pisaner demungeachtet nicht; sie trieben die Angreifer zurück und schlugen sie in mehren Treffen. Aber jedem Siege folgte größere Erschöpfung, und unfähig, dem sich immer erneuernden Guelfenheere länger mit Erfolg zu widerstehen, flüchtete sich die bedrängte Stadt endlich unter des mächtigen Mailands Schutz. Dieses aber verhandelte die unglückliche Schwester, gleich einer Sklavin, um eine große Geldsumme an die Familie Viskonti, von der Florenz sie, unwürdiger noch, um eine größere Summe wieder erstand. Die Unterhandlungen waren so geheim gehalten worden, daß die Pisaner nicht eher davon Kunde erhielten, als bis ein florentinisches Besatzungsheer vor den Thoren erschien, und Abgeordnete von Mailand und der Visconti’s die Uebergabe an dasselbe begehrten. Da rafften die Pisaner ihre letzte Kraft zusammen! Ein Entschluß, der, Alles für die Freiheit zu wagen, begeisterte die ganze Bevölkerung. Sie stürzte den schon eindringenden Florentinern entgegen und trieb sie nach furchtbarem Kampfe in die Flucht. Jedoch dreifach verstärkt kamen diese wieder, und die auf das engste eingeschlossene, auf eine Belagerung nicht vorbereitete Stadt war bald aller Lebensmittel baar. Der Hunger und sein Gefolge, Pest und Seuchen, frassen ihre Vertheidiger auf, welche das feindliche Schwerdt nicht zu berühren wagte. – Pisa fiel (1406), und die Uebergewalt erzwang sich von den Ueberwundenen Gehorsam. Vielen aber schien der Verlust der Freiheit unerträglich. Ueber 7500 Familien, die wohlhabendsten und mächtigsten, wanderten aus.
88 Jahre herrschten die Florentiner. Pisa’s Reichthumsquelle war verstopft, der Handel war geflohen vor den Stürmen des Kriegs; Pisa’s Flotten waren vernichtet, seine Colonien verloren gegangen, und von 40,000 waffenfähigen Bürgern kaum 10,000 noch übrig. Es glich einer Eiche, welcher der Blitz die Zweige abgeschlagen. Die äußere Pracht war hin, nur im Stamme trieb noch frisches Leben. Als Karl VIII. von Frankreich Italien überzog, zu streiten um dessen Herrschaft mit dem Hause Habsburg, da brach der verhaltene Geist der Pisaner von neuem in Aufruhrsflammen aus – die Florentiner wurden erschlagen oder verjagt, und aufgerichtet wieder die alte Republik. Schnell zu grausamer Rache rüstete sich das zwanzigfach mächtigere Florenz, damals auf dem Gipfel seiner Größe. Heer sandte es auf Heer, und ein Kampf entstand zwischen dem Heldenmuth und der Uebermacht, den rühmlichsten im alten und neuen Hellas zu vergleichen. Die Pisaner überwanden die Florentiner in mehren Feldschlachten und gewannen ihr ganzes ehemaliges Gebiet wieder. Florenz, betäubt von so unerhörtem Erfolge, zeigte sich zum Frieden geneigt; jedoch voll Eifersucht und Mißtrauen sahen Fürsten und Republiken Italiens das Wiederaufstehen des alten Freistaats. Sie boten Pisa ihre Vermittlung an und – riethen zur Unterwerfung. Drohungen folgten dem verworfenen Rathe, und Pisa sah sich von neuen Feinden umringt. Auch in dieser prüfenden Lage blieb es unerschüttert. Für die Freiheit eher zu sterben, als sie zu opfern, schwuren die Bürger in allgemeiner Versammlung.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/106&oldid=- (Version vom 2.8.2024)