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der Priester, jetzt theils halb, theils ganz verfallen. Der ganze Hof ist ein Chaos von Gesimsen, Säulen, Balken, Pfeilern und Fragmenten von Bildwerken meistens der köstlichsten Arbeit. Eine Allee von Sphynxen, welche Zeit und Menschen längst von ihren Postamenten gestürzt und zertrümmert haben, führte über den Vorhof auf die Hauptpforte der Tempelvorhallen zu, die unter zwei Pylonen, (der altägyptischen Baukunst eigenthümliche, einer abgebrochenen Pyramide ähnliche Gebäude), sich wölben und durch von oben einfallendes Licht erhellt werden. Diese Pylonen, von Granitblöcken ungeheurer Größe errichtet, sind von innen und außen hieroglyphenartig mit Sculpturen seltsamer Menschen- und Thiergestalten geziert. Sie sind vollkommen erhalten. Zwei colossale Löwen, jeder von 26 Fuß Höhe, und zwei Obelisken standen zu den Seiten der großen Pforte; alle sind umgestürzt, zertrümmert und liegen begraben in Schutt. Aus dieser Vorhalle gelangt man in eine andere, ebenfalls von einem Pylon überdeckt und aus dieser in die Cella, ein längliches Viereck, von außen und im Innern mit Säulen verziert. Am andern Ende der Cella, deren Dach eingestürzt und deren Inneres mit Schutt und Trümmern angefüllt ist, ist wieder ein hoher, runder Saal, von oben erleuchtet, die Wände mit Freskomalereien verziert. Auch dieser Theil des Gebäudes ist verschüttet; aber auf dem Schutte ersteigt man, mit Hülfe einer Leiter, leicht die Zinne des Pylon, von welcher das Auge alle Ruinen, den Wogenkampf des Stromes zwischen den Felsen und die unermeßliche Wüste übersieht.

Phylae und seine Gegend ist ein reiches Feld für das Studium der altägyptischen Kunst. Die Trümmer geben einen vergleichenden Ueberblick von der Bauart der Aegypter zu den verschiedensten Epochen, von der Zeit Sesostris an bis zu der der Cleopatra. Der Grundton ihres Charakters ist durch fast drei Jahrtausende immer der nämliche geblieben, unerschütterliche Festigkeit und jene riesenhafte Größe und verschwenderische Pracht, welche Erstaunen und Bewunderung mehr als wahres Wohlgefallen erwecken. Höchst merkwürdig sind für den Forscher einige unvollendet gebliebene Gebäude, da sie Aufschluß über die Art und Weise geben, wie die Aegypter bei ihren Bauten zu Werke gingen. Man sieht daraus, daß sie, das Verfahren ihrer Lehrer, der alten Indier, befolgend, ihre Prachtgebäude erst aus dem Rohen aufrichteten und diese dann, wie es der Bildhauer mit dem Blocke thut, erst von außen und innen in’s Reine arbeiteten, ein höchst mühsames Verfahren, weßhalb auch größere Gebäude oft viele Jahrhunderte zu ihrer Vollendung brauchten. Selbst die Säulen, Gesimse etc. wurden aus dem ungestalten Gestein an den im Rohen fertigen Gebäuden selbst ausgemeißelt, und an einem der Tempel von Phylae kann man diese Arbeit durch alle Abstufungen hindurch, vom unförmlichen Block an bis zur mit den reichsten Capitälern verzierten Säule, verfolgen. – –

Phylae hat noch eine besondere Merkwürdigkeit als die südliche Grenzmarke der Züge des neuern Alexanders – Napoleons. Nach dem Siege bei den Pyramiden folgte Bonaparte den fliehenden Mameluken bis hierher