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öde Gegend, wohin sich jetzt nur selten ein menschliches Wesen verirrt, einst ein Mittelpunkt altägyptischer Größe und Herrlichkeit war. Namentlich ist’s ein nahe bei dem Katarakt gelegenes Eiland, Phylae, (das Phul der Bibel), was durch die Pracht und Menge seiner Denkmäler die Aufmerksamkeit fesselt. Es ist ¼ Stunde lang und 3 bis 400 Schritte breit, und seine regelmäßige, fast eirunde Form erscheint mehr wie ein Werk der Kunst als das des Zufalls. – Ueberall, wo das Ufer niedriger ist, als die Wasserfläche des Stroms, ist es durch Mauerwerk erhöht, und alle Einschnitte und Klüfte sind mit Felsstücken ausgefüllt worden. Breite Treppen führen, nach den vier Weltgegenden hin, zum Strome hinab.

Die ganze Oberfläche des Eilandes ist eine Versammlung der prachtvollsten Ruinen. Mit Schauer der Ehrfurcht betritt man diese Trümmerwelt, gleichsam das Todtengerippe der Urmutter unsrer Cultur, welches langsam, unter dem Moder der Jahrtausende, der Vernichtung zusinkt. Nicht wie in Rom und Athen vermengen sich hier die bunten Baureste aller nachfolgenden Jahrhunderte und die Wohnungen des frischen Lebens mit den Denkmälern einer classischen Vergangenheit: alles ist altägyptisches Werk und altägyptische Vorzeit, und die vollkommene Verödung des Orts und der Gegend, die tiefe, nur durch das Rauschen der Gewässer und durch das traurige Geschrei Beute suchender Raubvögel und des einsamen Schakals unterbrochene Stille vollendet die Harmonie der Scene und trägt dazu bei, die Seele zu tiefer Betrachtung zu stimmen. –

– Welche Wahrheit predigen solche Trümmer, Friedhöfe der Reiche und Völker, in deren Staub der Königspalast wie die Hütte des niedrigsten Sclaven ohne Unterschied aufgeht! Wahrlich, eine erschütternde Wahrheit, vor der die Seele der Tyrannen bebt, und die den Genußkelch des mächtigen Verbrechers vergiftet; eine Wahrheit auch, die den Unterdrückten aufrichtet, den Leidenden tröstet und den Armen gleichgültiger macht gegen die ungleiche Vertheilung des Reichthums, dessen Verachtung sie ihn lehrt; – eine Wahrheit, dem Unglücklichen, welchen das Schicksal, oder Gewalt, Arglist und Bosheit um seinen Anspruch auf den frohen Genuß des irdischen Daseyns betrogen, die letzte Zuflucht; eine Wahrheit, die den Gedanken über das Irdische erhebt und der Seele das Gleichgewicht wieder giebt, das in den Sturmwogen des Lebens so leicht verloren geht! –

Die besterhaltene der Ruinen, zu deren nähern Betrachtung unser Bild führt, ist die eines Tempels des Osiris, wahrscheinlich ein von Sesostris begonnenes, durch spätere Anbauten vergrößertes Werk. – Es ist eine der imposantesten Ruinen in ganz Aegypten. – Durch den über 40 Fuß hohen, prächtigen Portikus, dessen Grundmauern im Nilbette ruhen, stieg man auf 50 Stufen hinan in den Vorhof des Tempels, dessen innern Eingang 2 Obelisken, die noch aufrecht stehen, gleichsam hüten. Der Hof ist ein längliches Viereck, auf beiden Seiten von Gallerieen, die von hohen Säulen getragen werden, eingerahmt. Zwischen den Säulen standen die Wohnungen