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Stadt und am Strande hin bedecken, und den Abend in prächtigen Wagen, die sich in unabsehbaren Reihen in den längs dem Meere hin laufenden Straßen Santa Lucia und Chiaja fortbewegen. Auf dieser Fahrt hat man die einzig schöne Aussicht über die Bay nach dem Vesuv und der Küste von Sorrento. Ihren Genuß erhöhen der rauschende Wogengesang, die erquickende Seeluft, die Heiterkeit des glänzenden, tiefblauen Himmels, die auf jedem Schritt sich bemerklich machende überschwengliche Fülle immer keimender, sprossender, blühender, schwellender, reifender Fruchtbarkeit, die Erinnerungen endlich, welche die die Berge und Thäler schmückenden Denkmäler einer großen Vergangenheit erwecken.

Aber auch nur diese, die herrliche Natur und die originelle Regsamkeit des gegenwärtigen frischen Lebens, sind es, welche Neapel und seine Umgebung so bezaubernd machen. Die Stadt selbst bietet für den Reisenden, namentlich wenn er den Maasstab anlegt, den ihm das in Florenz und Rom Gesehene gab, wenig, was ihn fesseln, noch weniger, was ihm einen reinen Kunstgenuß gewähren könnte. Desto häufiger ist sein ästhetisches Gefühl Beleidigungen ausgesetzt. Fast scheint es, als hätte die üppige Triebkraft der Natur auch dem Kunststyl sich mitgetheilt und denselben zur Ausartung und Uebertreibung angeregt. Dieß gilt namentlich von den größern Bauwerken Neapel’s. Mehre Straßen strotzen von Pallästen. Die von Chiaja und Toledo sind größtentheils von solchen zusammengesetzt; aber alle tragen, von Schnörkeleien und sinnlosen Verzierungen überladen, das Gepräge eines entarteten Geschmacks, das der innern Leerheit und Bedeutungslosigkeit, welche Neapel’s Kunstbestrebungen überhaupt charakterisiren; denn auch hiesige Skulptur und Malerei waren nicht glücklicher. Alles Vorhandene erscheint mehr wie eine in Schwulst und Bombast untergehende fratzenhafte Nachbildung der herrlichen Bestrebungen römischer und norditalischer Kunstschulen, denn das Erzeugniß einer nationalen, selbstständig entwickelten. So die Obelisken, Springbrunnen, Statuen, Pyramiden und alle neueren Kunstwerke, welche die Höfe und Gärten der Palläste und die öffentlichen Plätze verzieren. Einige Antiken, z. B. die berühmte Marmorgruppe des farnesischen Stiers, welche im Garten der Villa Reale aufgestellt ist, machen die Gehaltlosigkeit und Widerlichkeit der neuern Hervorbringungen nur um so auffallender.

Die Hauptstraßen abgerechnet, sind die übrigen enge, dunkel, schmutzig, und ihre Häuser von meistens schlechter Bauart. Die Menge der Kirchen und Kapellen (250) und der Klöster (150) ist groß, doch nur einige zeichnen sich durch Pracht und Größe aus. Die meisten sind in Winkelgassen versteckt, oder verbaut und, nur durch schmale Vorhallen zugänglich, dem Ueberblick entzogen. Der prachtvollste der christlichen Tempel ist der Dom, die Ruhestätte des heiligen Januarius. Seine Erbauung fällt in die Blüthenzeit des gothischen Styls (in’s 13. Jahrhundert), aber spätere Aenderungen haben ihn verunstaltet und seinen ursprünglichen Charakter fast ausgetilgt. Ihm kommt an Größe, auch an prächtiger und geschmackloser Verzierung zunächst die Kirche des reichen Frauenklosters Santa Clara; sehenswerther