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LXIX. Neapel und der Vesuv.




„VEDI NAPOLI E POI MUORI!“ – „Sieh’ Neapel und stirb!“ so ruft der Lazzaroni in patriotischer Begeisterung und nennt sein Neapel ein auf die Erde gefallenes Stück vom Himmel. – Wahr ist es, kein anderer Erdstrich kann des Besitzes so vieler Vorzüge sich rühmen, als dieser. Hier ist das Jahr wirklich rund; hier tanzen die lieblichen Horen zur Melodie der Freude den ewigen Reigen. Zu allen Jahreszeiten ist die Luft balsamisch und mild und selbst die Hitze des Hochsommers wird so sehr gemildert durch die Kühlung des Meers, daß sie nur dann lästig wird, wenn der glühende Sirocco weht. Auch hat das graueste Alterthum schon der Gegend Zauber erkannt und gewürdigt. Als die Griechen, diese feinen Kenner und Empfinder des Schönen, das Land entdeckten, wurden sie so entzückt von seiner Schönheit, daß sie in Schaaren die Heimath verließen, sich neue Wohnungen zu bauen am fernen Strande und noch Jahrhunderte nachher wallete die poetische Sage von den Wundern desselben hinüber nach Altgriechenland. – Hierher versetzten seine Dichter die hesperidischen Gärten, hierher die elysäischen Gefilde, die ewig blühenden. Homer läßt seine Sirenen hier singen, an Neapolis Küste zauberte seine Circe. Selbst der ernste, forschende Aristoteles spricht von diesem herrlichen Lande wie von einer neuen Welt, von einem Eldorado.

Auf der Küste reizendstem Punkte, prachtvoll am Rande eines majestätischen Golfs gelagert, aus dem die Inseln Capri und Ischia in kühnen Umrissen auftauchen, rechts vom rauchenden Vesuv bewacht und bedroht, und links in den Arm des überragenden Posilipp geschmiegt, in Form eines doppelten, durch die Citadelle del Uovo getrennten Amphitheaters, von den hochliegenden Forts St. Elmo und Castelnuovo beherrscht, sehen wir Neapel, des Reiches Hauptstadt, nach ihrer Lage, ihrer Volksmenge und ihren Schätzen eine der herrlichsten der Welt. Ueber 350,000 Menschen tummeln sich in ihren Straßen, in welchen Tag und Nacht der rauschende Lärm einer Bevölkerung, die zum Theil wohnungslos ist, nicht schweigt. Das Meerufer und der Hafendamm, beide die beliebtesten Spaziergänge, sind zu jeder Tagzeit von Menschen belebt, die im DOLCE FAR NIENTE dahin schlendern, oder vor einer Polizinellbude, um einen Taschenspieler, oder Sänger, oder Improvisator in malerischen Gruppen versammelt sind. Die Lust am Genuß der herrlichen Natur, die alle Stände durchdringt, verödet auch die Häuser der vornehmen Welt. Sie verlebt den Tag meistens in ihren Villen, welche die waldigen Anhöhen über der