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Mainz hat eine wunderschöne Lage. Im Garten von Deutschland, da wo der Main in den Rhein fällt, streckt es sich am linken Ufer des letztern, am Abhange eines Hügels, ½ Stunde weit den majestätischen Strom hinab. Eine 2100 Fuß lange, auf etwa 50 Schiffen ruhende Brücke führt über denselben nach dem Städtchen Cassel, – gleichsam eine Vorstadt von Mainz, welche auch, als Festung, mit ihm vereinigt ist. Mainz und Cassel haben zusammen etwa 2600 Häuser und 30,000 Einwohner, die Garnisonen nicht gerechnet. Es ist, nach Coblenz, der festeste Platz in Deutschland und ein Hauptbollwerk gegen Frankreich. –

Wenn man Mainz von seiner prächtigsten Seite sehen will, so muß man es der Stelle, an welcher unser Bild aufgenommen wurde, gegenüber, von der Mitte des Flusses aus, betrachten; aber von der neuen Anlage ist der Anblick ebenfalls äußerst reizend. Man sieht die beiden Ströme sich vereinigen, und es trägt der Vermählte das Joch der schwimmenden Schiffbrücke stolz und leicht, wie der freie Mensch das des Gesetzes trägt. Die Gebäude an dem Ufer spiegeln sich in dem klaren Wasser; hoch ragen die Thürme und Kirchen über die Stadt empor, über alle aber der majestätische Dom, welcher dem Ganzen ein Ansehen von Ehrfurcht gebietender Würde gibt. Die 6 Citadellen (die eigentliche Citadelle und der Hauptstein diesseits; Cassel, Mars, Montebello jenseits des Stroms und Petersaue auf einer Insel) und die in einem Rayon von 3½ Stunde die Festung umschließenden Außenwerke treten wenig hervor und wirken folglich nicht sehr störend auf den herzerhebenden Eindruck. –

Im Innern der Stadt muß dieser ohnehin schwinden. Mainz ist uralt; folglich winklich und unregelmäßig gebaut, mit engen, düstern Gassen und weit überhängenden Häusern. Die schönsten Gebäude sind verbaut, darum imponiren dem Auge nur wenige. Die Verwüstungen des Kriegs waren innerhalb der Stadt nicht allgemein genug, um ihren Charakter zu ändern; aber gerade hinlänglich groß, um ihn zu verstümmeln. Neues genug neben dem Alten, um widerliche Gegensätze zu bilden; auf der Brandstätte eines Pallastes aus dem Mittelalter oft nur eine buntfarbige, moderne Hütte, ohne Dauer, wie fast alle Gebilde unserer kindischen Zeit. Aber das Volk, das hier lebt, ist nicht wie seine düstern Gassen; es ist fröhlich gestimmt, hat Freude am Leben und weiß es zu genießen. Gefälligkeit und Offenheit sind hier allgemeine Tugenden. Ein glücklicher Leichtsinn – das beste Erbtheil, das ihm die Franzosenherrschaft gelassen, – hilft dem Mainzer über die Unebenheiten auf dem Pfade des Lebens hinweg, und eine reiche Natur, der sein Fleiß die köstlichsten Erzeugnisse abzugewinnen versteht, läßt den Aermsten selten an dem Nöthigen Mangel leiden.

Freisinnigkeit ist ein Grundzug von dieses Völkchens Charakter; immerhin ein guter Zug, wenn er auch noch nicht recht in’s Blut gegangen ist und mehr auf der Zunge sitzt. Man kann in der deutschen Bundesfestung Unterhaltungen hören, vor denen man an andern Orten erschrecken würde. Aber es gleitet[WS 1] hier der Unmuth

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: leitet (vgl. Polnische Nationalbibliothek)