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II. Der grosse Canal (Canal Grande) in Venedig.




Venedig hat keine Straßen wie die unsrigen. Statt des kothigen Pflasters drängt sich der krystallene Spiegel des Meeres zwischen die Häuserreihen, und statt des betäubenden Gerassels der Wagen hört man nur das Plätschern der Ruder. Die Gondel ist dort für Geschäfte, wie für’s Vergnügen, sobald sie außer dem Hause gesucht werden müssen, die unentbehrliche Vermittlerin. Von den Freuden der Städter auf dem festen Lande, von Ausfahren und Ausreiten, von Landpartien machen, von Ergehen in Wald und Flur kann bei dem Venetianer keine Rede sein; seine größte TERRA FIRMA ist der Sankt Markus-Platz; – will er den nicht auf- und abschreiten, so muß er seine Zuflucht zur Gondel nehmen und er fährt entweder in den Lagunen – oder, wenn er sich nicht weit vom Hause entfernen will, in den Straßen der Stadt (auf den Canälen) spazieren. – Am liebsten besucht er den Canal grande (den großen Canal), der, zwei hundert Fuß breit, von einer unabsehbaren Reihe großer Palläste eingefaßt ist, welche die prächtigste Straße in der Welt bilden. Der Stahlstich vor uns ist nach einer an der pittoreskesten Stelle des Canals – neben dem herrlichen Balbipallaste (auf dem Bilde das erste Gebäude links) aufgenommenen Zeichnung. Dieses Gebäude, welches in Pracht der Ausführung, an Adel und Reinheit des Styls seines Gleichen sucht, ist ein Werk der größten Architekten Italiens – Palladio’s. Es gehört der Familie Balbi, einem in den Annalen Venedigs eine große Rolle spielendem Geschlecht an, welches der Republik mehrmals aus seiner Mitte das Haupt gab. An diesem Canale hatten die Familien des goldenen Buchs (die Nobili) ihre Wohnungen der Pracht. – Jetzt sind viele dieser Denkmäler eines unermeßlichen Reichthums und Luxus der Aufenthalt des Elends, die Familien ihrer Erbauer sind zum Theil ausgestorben, oder sie wanderten aus, oder verarmten; manche Palläste stehen leer, andere verfallen. Der verwüstende Einfluß der Zeit, der Wellen und der Verödung wirkt hier zusammen, die Zerstörung der stolzesten Menschenwerke um so schneller zu vollenden. –