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eher einem indischen Tempel, oder einer arabischen Moschee ähnlich, als einer christlichen Kirche; rechts das ungeheure PROCURATORIO NUOVO, ein Werk des größten Architekten Venedigs (SANSOVINO) erbaut in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in den Zeiten der Republik Sitz der Obergerichte, unter Napoleon Residenz des Vicekönigs von Italien, jetzt ein kaiserlicher Pallast, und als solcher fast unbewohnt und öde. Links erhebt sich ein prachtvoller Pallast in fast gleichem Styl und nicht weniger groß: – das PROCURATORIO VRECCHIO, jetzt die Wohnung von Privaten und Staatsfunktionarien. Das Erdgeschoß dieser Riesenbauten öffnet sich gegen den Platz hin in Arkaden. Diese sind durch einen die Westseite der PIAZZA begränzenden von Napoleon vollendeten prächtigen Bogengang mit einander verbunden.

Niemand, – oder ihm müßte die Bildungsgeschichte der Menschheit fremd sein! – kann ohne tiefen, gewaltigen Eindruck den Markusplatz betreten. Er steht im Mittelpunkte der einst so mächtigen Republick, in derem Schooß die größten Bildungsmittel der Menschheit, Schiffahrt, Literatur und Kunst, die üppigste Pflege erhielten. Von ihm aus sieht er den Pallast des Doge mit seinen Bleikammern, Seufzerbrücke, Kerkern und daneben jene berühmte Bibliothek, in welche die Schätze der alten Literatur sich flüchteten, – jene Manuscripte, welche, durch die Buchdruckerpresse ein Gemeingut der Welt geworden, für alle Zeiten den menschlichen Geist zu erleuchten, zu bilden, bestimmt sind. Er steht auf der großen Börse, welche Jahrhunderte lang die Kaufleute aller Welttheile versammelte, von der aus der Welthandel Leben und Bewegung erhielt. Er hat den classischen Boden Venedigs betreten, auf dem sich die wichtigsten Ereignisse des 1300jährigen Freistaats zusammen drängen, den Ort, wo die Macht der Republik ihre Schaugepränge entfaltete; er sieht den fürchterlichen Löwen noch, aus dessem Rachen an jedem Morgen die Zettel gesammelt wurden, auf welchen Patriotismus manchmal, öfterer Tücke und Verrath die geheimen Anklagen vor das Schreckenstribunal der „Zehne“ brachten; er ist an dem Ort, wo Frieden oder Freundschaft suchende Gesandten fremder Völker und Fürsten von den Repräsentanten der stolzen Republik empfangen, besuchende Könige von ihnen gastlich begrüßt wurden. Hier wurden die neu erwählten Dogen von den Senatoren dem Volke vorgestellt; hier wurden die Bluturtheile der Tribunale vollstreckt, und hier war’s, wo in Zeiten innerer Fehde die Parteien die zahllosen Opfer schlachteten; hier endlich war’s, wo, im Fasching, sich die bunteste, tollste Lust im ergötzlichsten Wechsel zeigte, wo die Gaukler, Marktschreier und Beutelschneider ihre freie Kunst trieben; wo der Venetianer seine eigenthümlichsten Freuden zu suchen seit einem Jahrtausend gewohnt war. Noch ist der Markus-Platz der Ort, der am meisten besucht ist, auf dem sich Jeder ergeht, der, des Schaukelns der Gondeln müde, sich nach festem Tritt auf festem Boden sehnt; aber – es ist jetzt todt dort im Vergleich gegen das bunte, fröhliche Gewimmel der Vorzeit. Das Leben der Venetianer ist einsamer geworden in dem Maaße, wie Venedig selbst verödet und seine Bevölkerung sich mindert. –