Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
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das eigentliche Constantinopel, der rechts die Vorstädte Galata, Tophana, und auf seinem Rücken Pera, der Aufenthalt der fremden Europäer (Franken), trägt. Die merkwürdigsten und prachtvollsten Gebäude der Stadt befinden sich auf dem breit abgerundeten, in das Meer hineinragenden Ende der Landspitze. Der größere Theil desselben nimmt das Serail (die Residenz des Sultans) ein. Die Kuppeln und Minarets rechts auf unserm Bilde sind ein Theil dieser ungeheuern, unregelmäßigen, von Gärten, Cypressenhainen und Höfen unterbrochenen Gebäudemasse, welche eine mit Thürmen und Kanonen besetzte, fast 4 Stunden im Umfange messende Mauer umschließt. Der Haupteingang ist ein aus Marmorblöcken hochgewölbtes, von den 50 kaiserlichen Thürstehern (Kapidschis) gehütetes Thor, die hohe Pforte genannt, ein Name, der von den Türken symbolisch für das ganze Reich gebraucht wird. Auf beiden Seiten des Eingangs sieht man gewöhnlich frisch abgeschlagene Menschenköpfe, die Opfer der Sultanslaune oder der Reichs-Justiz, und oft in entsetzlicher Anzahl, aufgesteckt. Das Innere ist nicht geeignet, das Graußen, welches dieser Anblick erregt, zu verscheuchen; überall Bewaffnete, überall schwarze, gelbe und weiße Verschnittene, Tausende von Sklaven des durch kein Gesetz gefesselten Willens eines Einzigen. Dicke, finstere Mauern, deren Pforten zahlreiche Leibwachen besetzt halten, trennen die einzelnen Gebäude, und der Zauber, den der Anblick des Pallasthaufens mit seinen vergoldeten Kuppeln und Minarets von der Seeseite schuf, verschwindet in Täuschung. Der hinterste Theil des Serails – mehre abgesonderte, außerordentlich große, sehr hohe, nach Außen fast fensterlose Gebäude, von herrlichen Gärten umgeben, – ist der Harem, die Wohnung der sieben rechtmäßigen Frauen des Sultans, von denen jede ihren eigenen Haushalt und zweihundert junge Sklavinnen (Odalisken) zur Bedienung hat. Das größte aller Gebäude enthält die 1400 Kebsweiber des Fürsten, welche wiederum von eben so viel Sklavinnen bedient, und von 300 schwarzen und eben so viel weißen Eunuchen bewacht werden. Die Bewohner des Harems stehen mit der Außenwelt in keiner Berührung – selbst die Frauen des Sultans kennen sich unter einander nicht und sehen sich niemals. Die eigentliche Wohnung des Sultans ist für alle Sterblichen, außer für die Leibdienerschaft, den Kammerherrn (Kapidschi-Baschis) und Leibpagen, ein unzugängliches, geheimnißvolles Heiligthum, das Keiner, selbst der Vezier nicht, zu betreten wagt. Haufen von Stummen und Zwergen, in seltsamer Kleidung, sind die Staffage der Vorzimmer, erstere oft die Vollstrecker geheimer Hinrichtungsbefehle im Innern des Pallastes.
Das die Häusermasse hoch überragende Gebäude auf der Mitte des Bildes ist die ehemalige Kirche der heiligen Sophia, jetzt die Hauptmoschee der herrschenden Mohamedaner. Der Grund zu diesem großartigen Tempel wurde unter der Regierung des Kaisers Justinians im 6ten Jahrhundert gelegt; 20 Jahre nach ihrer Erbauung stürzten Erdbeben sie ein; sie erhob sich in der Form eines griechischen Kreuzes zum damals prächtigsten Gotteshause der Christenheit wieder aus ihren Trümmern. Ihr Aeußeres wurde in spätern Zeiten durch ungleichartige Anbauten entstellt, die dem Ganzen ein schwerfälliges, unästhetisches Ansehen geben; nur die Kuppel wölbt sich hoch über den
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/138&oldid=- (Version vom 7.6.2024)