Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
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Der Strom des Menschengeschlechts zieht über die weite Erde. Völker steigen in ihm wie Wogen auf und gehen unter. Ein glänzender Tropfen, oft ein Schaumbläschen nur, glüht das Leben großer Menschen im Lichte der Sonne. Es strahlt oder schillert für einen Augenblick und verschwindet. Aber die Ewigkeit schwebt ernst und schweigend über den Fluthen, Wage und Schwerdt der richtenden Gottheit in den Händen.
Selten ruhig, oft sturmbewegt und tosend, wälzt sich seit ein paar Jahrtausenden der Strom der Menschheit über Constantinopels hesperidische Hügel. Völker kamen, drängten, siegten, unterjochten, trieben oder tilgten aus, weilten und herrschten eine Zeitlang, wurden wieder gedrängt, unterjocht, und vergingen.
Selbst der Ortsname unterlag dem Wechsel. Byzantium hieß (nach seinem ersten Erbauer Byzas aus Megara) was man später Constantinopel nannte. Die Stadt erstand am Thrazischen Bosporus, der Europa von Asien scheidet, auf einem die Gestalt eines Dreiecks habenden Vorgebirge, an der Stelle, welche das Serail jetzt einnimmt. Ihre für den Handel äußerst günstige Lage wurde bald von den benachbarten griechischen Völkerschaften erkannt. Sie ward das Ziel großer Schaaren von Auswanderern aus allen Theilen des alten Hellas. Besonders zahlreich ließen sich reiche Milesier hier nieder, deren Einfluß, obschon durch republikanische Regierungsformen beschränkt, bald überwiegend wurde. Die Stadt erweiterte sich bis um die Zeit des Peloponnesischen Kriegs so sehr, daß sie fast die Hälfte des Raumes, den das heutige Constantinopel bedeckt, einnahm. Man zählte Byzanz damals schon unter die mächtigsten, reichsten und schönsten Pflanzstädte Griechenlands.
Ihre gewissermaßen schutzlose Lage und ihr Reichthum stellte sie den beutesüchtigen, kriegerischen Völkern Thraziens und Bythiniens blos. Sie wurde in häufige Kriege mit denselben verwickelt, die nicht immer glücklich endigten. – Mehrmals besiegt und gebrandschatzt, und im Peloponnesischen Kriege eingenommen und verwüstet, erhob sie sich doch immer von neuem wieder zu Macht und Ansehn. In den Kämpfen, welche durch die gänzliche Unterjochung Griechenlands unter die römische Weltherrschaft endigten, theilte sie das allgemeine Schicksal; sie wurde römische Provinzstadt. Gerade dieses aber, welches ihrem Handel das ganze unermeßliche Weltreich öffnete, wurde die Grundlage ihrer nachmaligen Größe. Sie wuchs an Reichthum und Ausdehnung von Jahr zu Jahr. Unter den Kaisern
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/135&oldid=- (Version vom 7.6.2024)