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I. Der Sankt-Markus-Platz in Venedig.




Staunen und Bewunderung erschüttern den Fremdling, der zum erstenmale des Ozeans Roma – Venedig – sich nähert. Sich in die Feen- und Mährchenwelt versetzt glaubend, sieht er aus den spiegelnden Wellen mächtige Kuppeln und Dome sich erheben, riesige Säulen und schlanke Thürme, Palläste und Kirchen, zahllos und prachtvoller, als eine morgenländische Phantasie sie sich denken kann.

Aber nicht die Herrlichkeit der Bauwunder Venedigs allein ist’s; nicht allein ist’s die Betrachtung der Kühnheit des Geistes, welche den Menschen inne wohnen mußte, die den Gedanken fassen konnten, für die gigantesken Schöpfungen der Architektonik den Grund des Meeres als Bauplatz zu wählen; auch nicht die Betrachtung der Unermeßlichkeit des Reichthums ist’s, welcher die Ausführung solcher Entwürfe möglich machte: mehr als alles dies ist’s die Erinnerung an die Lebensschicksale des Volks, das alle diese Wunder vollbracht hat, was in Venedig die Seele des denkenden Beschauers so mächtig ergreift. Wenn er die Wäsche der Bettler trocknen sieht auf Balkonen von Erz und zwischen marmornen Fenstersäulen, wo er Reichthum und Schönheit erspähete, hinter gebrochenen Scheiben, in Lumpen erblickt des Elends Gestalten: – so fragt er sich wohl, über die grellen Gegensätze erschrocken: Was war damals, als diese Dome sich wölbten und man dieser Marmorpalläste Grundsteine in den Busen der Wogen versenkte: – was war damals Venedig? – Groß und mächtig, antwortet die Geschichte, führte die stolzeste und an allen Tugenden des Gemeingeistes reichste der Republiken in ihrer starken Hand den Dreizack, den, ihr längst entwunden, jetzt die hohe Brittania tragt: – Herrscherin über alle Meere, des Welthandels Herrin, schüttete dieser in ihren Schooß die Reichthümer der Erde aus. Die schönsten Länder unsers Welttheils, Griechenland, Dalmatien, Cypern und Candia; des Orients herrlichste und reichste Küsten waren ihr Provinzen, das kaiserliche Byzanz selbst anerkannte sie einst als Herrin, und des Abendlandes mächtigste Könige suchten ihren Schutz und ihre Hülfe. Ihre Flagge führte die zahllosen Schaaren des heiligen Kreuzes an des gelobten Landes Küsten und unter ihrem Banner entschied sich oftmals im verzweifelten Kampfe für die Christen der Sieg. Und als der blinde Eifer für’s Kreuz erkaltete und im Orient sein Glanz erlosch vor dem bereits in dreien Welttheilen herrschenden Halbmond, da war’s Venedig, das den ungleichen Kampf, mit mehr Heldenmuth als Klugheit, noch