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nahm er kein Geld, sondern nur Brot und Feldfrüchte. Er ist Vegetarier der strengsten Observanz und ißt zum Beispiel keinen Honig, weil man, um ihn zu erlangen, Bienen töten muß. Er hält es auch für Sünde, mit Pferden zu pflügen. Der Angeklagte Bespalow, der in einer dörflichen Gemeinde als Schreiber angestellt war, erregt Aufsehen durch sein gründliches Wissen auf dem Gebiete der Philosophie und der Literatur. Der Angeklagte Nowikow ist jener Bauersmann, zu dem Tolstoi sich begeben wollte, als er kurz vor seinem Tode die berühmte Flucht in Szene setzte …

Galsworthy über den Weltkrieg. In „Scribners Magazine“ schrieb der bekannte englische Schriftsteller Galsworthy vor kurzem „Glossen zum Weltkrieg“.

Heute lesen wir in den Zeitungen, daß in den Reihen unserer Feinde ein Sozialist oder ein Pazifist seine Stimme erhoben hat gegen die Pöbelleidenschaft und die Kriegswut seiner Landsleute, und wir denken: „Wahrlich, welch aufgeklärter Mann!“; am nächsten Tag lesen wir in denselben Zeitungen, daß der Herr Soundso dasselbe getan hat, aber in unserem eigenen Land, und wir sagen: „Herrgott, den sollte man aufhängen!“

Jetzt hören wir begeistert einem unserer Staatsmänner zu, der uns von dem letzten Blutstropfen und von dem letzten Pfennig spricht: „Das ist Patriotismus!“ Dann lesen wir, wie ein feindlicher Staatsmann seinem festen Entschluß Ausdruck gibt, auch Hunde und Katzen zu bewaffnen, und wir schreien: „Welch ein barbarischer Wahn!“

Am Montag erfahren wir, daß ein verkleideter Mitbürger bis ins Innerste des Feindeslandes vorgedrungen ist, um uns irgendeine wichtige Aufklärung zu verschaffen. Wir denken uns: „Das ist echter Heldenmut!“ Am Dienstag erbittert uns die Nachricht, daß mitten unter uns ein Feind gepackt wurde, der spionieren wollte, und wir sagen: „Gemeiner Spion!“

Unser Blut kocht am Mittwoch, weil wir von der schlechten Behandlung hören, die einer der Unsern in Feindesland erdulden mußte. Am Donnerstagabend nehmen wir den Bericht von der Zerstörung feindlichen Eigentums durch unsern Pöbel mit Befriedigung zur Kenntnis: „Was können Leute anderes erwarten, wenn sie zu dieser Nation gehören?“

Unsere Feinde singen einen Haßgesang, und wir verachten sie deshalb. Wir selbst hassen und schweigen. Aber wir fühlen uns ihnen sehr überlegen.

Sollten wir nicht lieber unsern Kampf ehrlich zu Ende kämpfen und auf diese Ironie verzichten?

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Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/29&oldid=- (Version vom 25.2.2024)