Seite:Menschen- und Voelkerleben 1916 Heft 6-7.pdf/28

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

ein korrigierbarer Irrtum, und der Lauf der Geschichte hat immer gezeigt, daß die Korrektur eintritt, sobald die Selbstbesinnung zu ihrem Recht kommen kann. Die Zahl der Irrtümer, von denen wir die europäische Menschheit heute erfüllt sehen, ist unendlich, und zwar nicht nur bei unseren Feinden, sondern auch bei unserem eigenen Volke; aber der heutige Zustand will für die Lebensbeziehungen der Völker nach dem Kriege gar nichts besagen. Die hohen Ideale einer über den Nationen stehenden Menschlichkeit, einer reichen, alle Völker umfassenden Weltkultur sind nicht für alle Zukunft ernsthaft gefährdet. Die Leidenschaften der Stunde werden vergehen, die Geistesarbeit der Jahrhunderte wird bestehen. Wichtiger als die Sorge um die künftigen Beziehungen der Völker unserer Erde ist heute der gemeinsame Kampf gegen die verheerende Macht des internationalen Kapitalismus, auf dem der Fluch dieses Weltkrieges ruht, und die klare Besinnung der Völker auf die letzten und höchsten Werte alles menschlichen Seins.

Tolstoi-Jünger vor dem Kriegsgericht. Das Moskauer Kriegsgericht verhandelte bei geschlossenen Türen gegen eine Anzahl Anhänger der Lehren Leo Tolstois. Sie stehen, wie man dem „Journal de Genéve“ berichtet, unter Anklage, weil sie im Oktober 1914 durch eine im Bezirk Tula an Zäunen und Telegraphenstangen angeschlagene Proklamation die bekannten Anschauungen Tolstois über den Krieg zu verbreiten suchten; daß sie Soldaten zum Ungehorsam und zur Dienstverweigerung aufgefordert haben, kann ihnen nicht nachgewiesen werden. Die Aufrufe wiesen die vollen Namen und die genauen Adressen der Verfasser auf. Bei einer sofort vorgenommenen Haussuchung fand man einen zweiten Aufruf, der von zahlreichen Tolstoianern aus allen Teilen Rußlands unterzeichnet, aber nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Unter den Angeklagten befinden sich Tolstois ehemaliger Sekretär Bulgakow und der greise Hausarzt des Dichter-Philosophen Dr. Makowizky, der österreichischer Untertan ist. Im ganzen sind 28 Personen angeklagt, unter ihnen eine ganze Familie Rodin – Vater, Mutter, Tochter und zwei Söhne –, ferner der finnische Schriftsteller Arvid Ernfeld und ein gewisser Gremberg, der wegen des gleichen „Verbrechens“ schon in Charkow vor Gericht stand und zum Verlust aller bürgerlichen Rechte und zur lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien verurteilt worden ist. Einer der Hauptangeklagten, Popow, stammt aus einer reichen Kaufmannsfamilie; schon als Gymnasist wurde er ein Jünger Tolstois und ging, nachdem er sein Vaterhaus verlassen hatte, auf die Wanderschaft. Als ihn der Vorsitzende des Gerichtshofes fragte, wer er sei, antwortete er: „Gottes Sohn.“ Für die Arbeit, die er bei Bauern verrichtete,

Empfohlene Zitierweise:
Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/28&oldid=- (Version vom 25.2.2024)