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der Zwangsarbeiten noch sind. Sie leben gemeinsam in Kasernen, die natürlich in jeder Hinsicht an Komfort ermangeln; die Nahrung ist gelinde gesagt, nicht zu üppig; schimmeliches Salzfleisch und sauer gewordener Kohl stehen nicht selten auf dem Speisezettel.

In ganz anderer Lage befinden sich die Verbannten, die eine Familie haben; sie leben frei in Ansiedelungen, jede Familie hat eine eigene Hütte und eigenes Land und erhält außerdem die zur Bestellung des Ackers nötigen Werkzeuge, manche auch Vieh. Korn zur Aussaat wird den Ansiedlern ebenfalls gegeben, doch muß dieses mit einer Zugabe von 4% zurückerstattet werden. An drei Tagen der Woche arbeiten diese Leute für sich – an drei für den Staat; letztere Arbeit besteht in Gemüse- und Ackerbau, Holzfällen, Anlegen von Wegen und sonstigen Arbeiten, die jedem Bauer bekannt und gewohnt sind. So führen diese Kolonisten ein ziemlich erträgliches Dasein; Dr. Nikolsky, dessen Arbeit ich meine Mitteilungen zum größten Teil entnehme, berichtet sogar, manche dieser Sträflinge hätten ihm offen gesagt, ihr jetziges Leben sei ein weit besseres als das, welches sie daheim vor ihrer Verbannung geführt. Solche Ansiedlungen machen vollständig den Eindruck russischer Dörfer: dieselben Hütten, auf den Gassen weißhaarige, barfüßige Kinder, Weiber im Sarafan, echte russische Bauern im Kaftan oder Kittel, meist mit gutmütigem Gesichtsausdruck – alles dies läßt den Beschauer fast vergessen, daß er eine Verbrecherkolonie vor sich hat. Der einzige äußere Unterschied zwischen den unfreien Ansiedlungen und freien Dörfern besteht darin, daß man hier selten ein Lied erklingen hört, und wenn einmal eines ertönt, so ist es sicher ein wehmütiges. In manchen Kolonien sind Schulen für die Kinder der Sträflinge; in einer derselben traf Dr. Nikolsky als Lehrerin die Tochter eines Sträflings,

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Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/20&oldid=- (Version vom 24.2.2024)