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Allerdings machen auch die Flüchtlinge wenig Umstände und töten oft eine ganze Giljackenfamilie, die in ihrer einsamen Jurte lebt, um sich in den Besitz von getrockneten Fischen und sonstigen Lebensmitteln zu bringen. Wie der wilde Vogel im Käfig unruhig wird, wenn die Zeit naht, wo seine freien Genossen die Wanderschaft antreten, so zeigen sich, wenn das Transportschiff der Küste Sachalins naht, oder doch bei Beginn des nächsten Frühjahrs, bei den Sträflingen alle Anzeichen, daß sie Lust verspüren, das Weite zu suchen.

In ganzen Scharen fliehen sie – und in ganzen Scharen kommen sie im Herbst zurück zur körperlichen Strafe, in verschärfte Haft. Dieser fast instinktive Drang zu Fluchtversuchen kann nur dem Sehnen entspringen, sich – wenn auch nur auf kurze Zeit – als freier Mensch zu fühlen, tun zu können, wozu man eben Lust hat, sich im Grase zu wälzen und zum blauen Himmel hinaufzuschauen, ohne beständig die Blicke der Aufseher auf sich gerichtet zu fühlen.

Als blasser Hoffnungsschimmer könnte ja am Ende die Sage dienen von einzelnen Glücklichen, denen es gelang, die Ostküste zu erreichen und die von einem ausländischen Walfischfänger, der an der Insel anlegte, um Wasser aufzunehmen, als Matrosen mitgenommen wurden – die langjährigen Erfahrungen mißlungener Fluchtversuche hat aber sicher die Sträflinge eines Besseren belehrt, als sich solchen unbegründeten Hoffnungen hinzugeben – sie fliehen nur, um zu fliehen, ohne zu denken, daß sie entfliehen könnten.

Unter den Verbrechern Sibiriens sind zwei Arten von Sträflingen zu unterscheiden, die gar keine Aehnlichkeit miteinander haben – solche ohne Familie und solche mit Weib und Kindern. Erstere sind die eigentlichen Sträflinge. Sie arbeiten in den Kohlenbergwerken, schleppen Lasten aus einer Ortschaft in die andere und was

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Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/19&oldid=- (Version vom 24.2.2024)