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Unser, von den Tatareneinfällen arg mitgenommenes Volk kämpfte bis zum sechzehnten Jahrhundert um seine politische und nationale Freiheit, von den Tataren im Osten, von den Polen im Westen bedrängt. Die Nation vermochte dennoch in dieser Zeit soviel Lebenskraft aufzubringen, daß auf den Trümmern des ukrainischen Staatswesens, unter Heranziehung litauischer Stämme, ein litauisch-ukrainischer Staat aufgerichtet wird, in welchem ukrainische Kultur maßgebend ist und ukrainische Sprache und Schrift von der Aristokratie und der Regierung angenommen wird. Als der litauisch-ukrainische Fürst Jahajlo Ende des vierzehnten Jahrhunderts die polnische Krone annahm und seine Residenz auf Wawel, der Burg polnischer Könige in Krakau, aufschlug, hat er dort sofort ukrainische Sitten eingeführt. Vielleicht das kostbarste, aber für einen Westeuropäer zugleich unverständlichste Denkmal Krakaus ist die jahajllonische Kapelle im gotischen Dom der Wawelsburg. Der gotische Bau dieser römisch-katholischen Kirche ist reich verziert mit byzantinischen Fresken, zu denen sich geschnörkelte Aufschriften in cyrillischen Lettern gesellen.

Die Fresken ukrainischer Maler des vierzehnten Jahrhunderts, wenngleich ihre Abhängigkeit von der byzantinischen Mosaikkunst nur zu deutlich ist, weisen dennoch in ihrer Komposition und in den Details darauf hin, daß die ukrainische Malerei, den byzantinischen Einfluß abschüttelnd, sich anschickte, den Weg zum Realismus einzuschlagen, wie denselben der berühmte Italiener Giotto vertrat.

Aber es war nur zu erklärlich, daß an dem Hofe eines polnischen Königs polnische Aristokratie und polnische römisch-katholische Geistliche sich geltend machten und die ukrainisch-litauische Aristokratie verdrängten oder polonisierten.

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Menschen- und Völkerleben 1 (1916), Heft 6/7. Langguth, Esslingen am Neckar 1916, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Menschen-_und_Voelkerleben_1916_Heft_6-7.pdf/10&oldid=- (Version vom 24.2.2024)