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langsamen und wiederholten Vortrage fast wörtlich nachschreiben. Alle übrigen Märchen sind wenigstens immer unmittelbar nach der mündlichen Mittheilung aufgezeichnet und zwar mit möglichster Beibehaltung des Ausdrucks und der eigenthümlichen, stehenden Wendungen.

Die ganze Ausdrucksweise, der das Volk bei diesen Erzählungen sich bedient, ist immer so gehalten, wie man etwa Kindern dieselben vortragen würde, und diesen Maaßstab muß meiner Meinung nach auch der schreibende Nacherzähler im Allgemeinen vor Augen haben. Dabei hält das Volk sich einfach an die Handlung und entwickelt rasch und schmucklos in echt epischer Weise nur diese, ohne Lob oder Tadel darüber auszusprechen, und noch weniger ergeht es sich in breiter, hochtrabender Ausmalung des Gefühls und des subjectiven Eindrucks, wie dieß z. B. noch in Bechsteins Märchenbuche nicht selten vorkommt. Da liest man in der bezauberten Prinzessin Sätze wie folgende, S. 29.:

„Nachdenklich und mit hochschlagendem Herzen schritt der ehrliche Meister über die vom Abenddämmer umsponnene Heimathflur seinem Dörflein zu. Schon sah er in Gedanken seinen ältesten Sohn, Hellmerich, den er ungleich mehr liebte als seinen andern, Hans, im Königsschloß, und die holde Prinzessin als seine hochverehrteste Schnur.“

Und so geht es fort. Würde ein mündlicher Erzähler in diesem überladenen Tone ein wirkliches Märchen vortragen, es müßte die Kinder im höchsten Grade langweilen und die Erwachsenen zum Lachen nöthigen; beim Lesen bleibt es vollends ohne Wirkung. Form und Inhalt widersprechen sich hier, indem die Einfachheit und Wahrheit, die Kindlichkeit und Unschuld einer echt epischen Erzählung unter solch falschem Schmucke zur Karikatur verzerrt wird und nothwendig verloren gehen muß. Es entsteht hierdurch eine widerwärtige Zwittergattung in der schönen Literatur, eine Gattung, die den Inhalt der Volks- oder Naturpoesie mit dem äußerlich abgeborgten Schmucke der Rhetorik und

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Scheitlin, Stuttgart 1852, Seite V. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meier_Volksm%C3%A4rchen_aus_Schwaben_A_005.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2019)