Seite:Märchen (Montzheimer) 119.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Mit beiden Händen bog er Gras und Farnkräuter auseinander, fühlte er im Moose, der Flüchtling war nicht zu entdecken.

Da hörte Rainer nochmals der Schwester ängstlichen Ruf; ihm fiel zugleich die Mahnung der Treue ein, darum sprang er nun eilig durch das niedrige Unterholz, um Sitta schnellstens einzuholen.

Doch wo war denn sein Band? Ach, erst jetzt bemerkte er mit Schrecken, daß es ihm bei seinem unbesonnenen Suchen nach dem Käfer entglitten war; keine Spur des glänzenden Streifens war zu entdecken.

Eine tödliche Angst befiel ihn: wie, wenn er die Schwester nun nicht wiederfand? Vielleicht ließ auch sie, um ihn zu suchen, die gute Taube und das Wunderband im Stich? Ach, was hatte er da angerichtet! Nochmals hörte er den Ruf, und da schimmerte es auch hell durch das Grün, daß er beglückt diesem hellen Punkt zusteuerte. Doch fast erschrocken blieb er beim Näherkommen stehen, denn das, was er da sah, war ja gar nicht sein Schwesterchen, sondern eine hohe Frauengestalt, deren Aeußeres ihm noch mehr Verwunderung einflößte, als der Anblick des Käfers dies getan hatte. Genau so gelb wie das Käferkleid war nämlich das Seidengewand der Frau, das in glänzenden Falten geschmeidig von ihren Schultern herniederfloß, während das rote Haar ebenfalls gleißte.

Wie sie nun so mit den weißen Armen winkte und ihre grünlich schillernden Augen auf den Knaben heftete, glich sie einer goldenen Schlange; ihre Stimme fragte lockend: „Wohin geht denn dein Weg, mein Knabe?“

„Nach Hause will ich,“ lautete Rainers kurze Antwort, denn ihm flößte die Erscheinung Unbehagen ein.

Diese schien das nicht zu bemerken, denn sie fuhr in eindringlichem Tone fort: „Und so allein geht das Bürschchen durch den Wald? War niemand bei dir?“

Empfohlene Zitierweise:
Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_119.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)