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Der Stelzenbaum.

Ohnweit des Dorfes Stelzen bei Plauen steht auf einem Hügel weit sichtbar ein Baum, der Stelzenbaum geheißen. Des Name rührt daher, daß eine arme Hexe ausgeführt wurde, lebendig verbrannt zu werden, und war doch keine Hexe, sondern ein unschuldig Mägdlein, der die Tortur das Bekenntniß sündiger Teufelsbuhlschaft abgezwungen. Und wie sie ihren Todesweg ging, stand ein dürrer Pfahl auf der Höhe, den rührte sie an mit der Hand und sagte: So wahr ein Gott lebt, so wahr muß an den Tag kommen, daß ihr mich als eine Unschuldige mordet, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich, und er kann es machen, so er in seiner Weisheit will, daß dieser dürre Pfahl hier zum blättervollen Baum werde, und grünend von mir zeuge noch in später Zeit. Man achtete aber ihrer Reden nicht und nicht ihrer Thränen, und führte sie zum Tode. Alsbald, wie die Arme gestorben war, und einige Heimkehrende bei dem Pfahle stehen blieben, trieb dieser sichtbarlich Keime und Zweiglein und Blätter, fürwahr ein großes Wunder, darüber sich alle entsetzten, und so machte Gott des Mägdleins Unschuld offenbar, und das Volk schrie nun Wehe über die ungerechten und unbarmherzigen Richter, und es wurde niemals wieder eine Hexe verbrannt oder hingerichtet. Der Wunderbaum aber wuchs und breitete seine starken Aeste ringsum, und hieß nun von dem nahen Ort der Stelzenbaum im ganzen Lande.

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/72&oldid=- (Version vom 1.8.2018)