Seite:Ludwig Bechstein - Thüringer Sagenbuch - Erster Band.pdf/35

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
16.
Das Kirchhofkreuz.

In einer Lichtstube zu Weitersrode belustigten sich Burschen und Mädchen mit allerlei Scherzen, erzählten einander Sagen und Märlein, auch viel vom wandelnden Mönch und der weißen Jungfrau droben im alten Schlosse, und kamen auch darauf, ob man sich vor Gespenstern zu fürchten habe oder nicht. Endlich wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Bursche wol so furchtlos sei, vom Gottesacker ein Grabkreuz in der Mitternachtstunde zu holen? Und da war gleich ein vorlautes und keckes Knechtlein bei der Hand, welches rief: Was gilt’s? Ich thu’s! – Es wurde eine Wette gemacht, und der verwegene Bursche eilte nach dem Kirchhofe; gerade schlug es eilf Uhr. Er rüttelte nun so lange an einem Kreuze, nachdem er über die Mauer geklettert und in den Raum des Gottesackers hinab gesprungen war, bis er des Kreuzes sich bemächtigt hatte, mit dem er wieder an der Mauer emporkletterte. Aber im Augenblicke, in welchem er droben war, und jenseits hinab wollte, fühlte er sich zurück gerissen, und eine hohle Grabesstimme rief: Mein Kreuz! Halt! Mein Kreuz! – Da schwand den Ueberkecken das Bewußtsein, und er blieb wie leblos auf dem Gottesacker liegen. Als er nun nicht wiederkehrte in die Gesellschaft, machte ein Theil derselben mit Laternen sich auf, ihn zu suchen, und fanden ihn starr und kalt, mit entstellten Zügen. Man trug ihn nach seiner Behausung und brachte ihn wieder zu sich, doch nicht länger, als bis er mit matter Stimme und halber Besinnung mitgetheilt hatte, was ihm widerfahren war, worauf er starb.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)