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nach der alten heidnischen Opfersitte ein Kind, das von seiner Mutter verkauft wurde, lebendig in die Mauer eingeschlossen; das rief, ohne sein Verderben zu ahnen, Anfangs: „Mutter! ich sehe Dich noch!“ dann schrie es kläglich: „Mutter! ich sehe Dich nicht mehr!“ Und bald darauf erfaßte Reue die unnatürliche Mutter, und sie stürzte sich von dem Felsen; nun umwandelt sie als unseliger Geist das alte Gemäuer, und lauscht dem Gewimmer ihres Kindes, und will es mit den Nägeln aus der Mauer graben. Manche sagen, man höre das Kind nur alle sieben Jahre wimmern, und die Maurer, die es eingemauert, seien in Eulen verwandelt worden, die noch erbärmlicher schrien als das Kind, und die so lange um die Trümmer fliegen müßten, als noch ein Stein derselben auf dem andern stehe. – Außer dieser Spukfrau wandelte sonst auch noch eine andere weiße Frau in den Trümmern umher, die ist aber erlöst worden durch ein Mädchen aus Schweina, welchem die gespenstige Wandlerin erschienen war, und ihr die Bedingungen gesagt hatte, an deren Erfüllung sich jener Erlösung knüpfte. Die Jungfrau mußte in den Kirchen zu Liebenstein, Barchfeld und Witzelrode opfern, und zwischen Ostern und Pfingsten für die Armen Brot backen, dann am goldenen Sonntage hinauf zur Burg gehen, was sie auch alles that, nur wurde sie durch Besuch etwas verspätet, und mußte eilen, doch nahm sie die besuchende Freundin mit. Oben an den hohlen Fenstersimsen stand schon ihrer harrend die schleierweiße Dame, und winkte sehr hastig und ängstlich, sich zu sputen. Die Mädchen eilen rasch empor, und hören, als sie in das Burgpförtchen eintreten, eine himmlische Musik; mitten in dem engen Raume des Mauerumfanges aber steht eine Truhe voll

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/268&oldid=- (Version vom 1.8.2018)