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ist jedenfalls dieses, daß wir fünf Arten (und nur fünf Arten) Maßgeometrie in der Ebene erhalten, von denen uns nur die eine, die dem imaginären Punktepaar entspricht, von dem Beispiel der elementaren Metrik her bekannt ist. Den Inbegriff aber der so entstehenden Theorien nennen wir die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbestimmung (zunächst für die Ebene, dann für den Raum, überhaupt für beliebig ausgedehnte Mannigfaltigkeiten).

Nun kann ja heute keineswegs meine Absicht sein, in die Einzelheiten dieser Theorien einzugehen; nur ihre allgemeine Bedeutung soll hervorgehoben werden. Ich habe da zunächst ein Vorurteil, das mancher hegen mag, zurückzuweisen: der Laie wird von vornherein sehr wenig geneigt sein, der Beschäftigung mit Fragestellungen, die zunächst nur aus dem subjektiven, sozusagen ästhetischen Erkenntnistrieb des Mathematikers hervorgehen, irgendwelchen Wert beizulegen. Die Geschichte der Wissenschaft aber zeigt, daß die Sache ganz anders liegt; es ist ein großes Geheimnis und schwer in bestimmte Worte zu fassen; ich werde sagen, daß alles, was mathematisch gesund ist, früher oder später über sein engeres Gebiet hinaus eine weiterreichende Bedeutung gewinnt. So ging es mit der Theorie der Kegelschnitte, die von den Geometern des Altertums um ihrer selbst willen entwickelt war und mit der Entdeckung der Keplerschen Gesetze plötzlich die größte Wichtigkeit für unser Naturverständnis gewann. Und genau so ging es mit der an die Theorie der Kegelschnitte sich unmittelbar anlehnenden Lehre von der projektiven Maßbestimmung. Das erste war, daß sie hohe erkenntnistheoretische Bedeutung erhielt, indem sie sich als die einfachste Grundlage für die Nicht-Euklidischen Geometrien erwies, die aus den Untersuchungen über die Unabhängigkeit des Parallelenaxioms von den anderen Axiomen entstanden waren und zunächst als etwas besonders schwer Zugängliches galten[1]; ich werde sogleich noch einige hierauf bezügliche Einzelheiten anführen. Das zweite war, daß sie sich in anderen Gebieten der reinen Mathematik als eine brauchbare Methode zur Klarstellung komplizierter Verhältnisse bewährte, so in der Theorie der automorphen Funktionen oder auch in der Zahlentheorie[2]. Und nun, in den letzten Jahren, kommt hervor, daß sie ebensowohl eine rationelle Grundlage für die modernsten Spekulationen der Physik abgibt, insbesondere den Gegensatz zwischen klassischer und neuer Mechanik einfach begreifen läßt.



  1. Vgl. meine Arbeiten „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ in den Bänden 4 und 6 der Math. Annalen (1871 und 1878). [Siehe Abh. XVI und XVIII dieser Ausgabe]
  2. Vgl. die allgemeine Darstellung bei Fricke-Klein, Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen (Teil I, Leipzig 1897), ferner meine autographierten Vorlesungen über ausgewählte Kapitel der Zahlentheorie (Leipzig 1897).
Empfohlene Zitierweise:
Felix Klein: Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe. Julius Springer, Berlin 1921, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lorentzgruppe_(Klein).djvu/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)