Seite:Loos Sämtliche Schriften.pdf/47

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
DAS SITZMÖBEL
(19. juni 1898)


Das Otto Wagner-zimmer ist schön, nicht weil, sondern obgleich es von einem architekten herrührt. Dieser architekt ist eben sein eigener dekorateur gewesen. Für jeden anderen ist dieses zimmer unpassend, weil es seiner eigenart nicht entspricht; es ist also für einen anderen unvollkommen, und daher kann von schönheit nicht mehr die rede sein. Das scheint wohl ein widerspruch.

Unter schönheit verstehen wir die höchste vollkommenheit. Vollständig ausgeschlossen ist daher, daß etwas unpraktisches schön sein kann. Die grundbedingung für einen gegenstand, der auf das prädikat „schön“ anspruch erheben will, ist, daß er gegen die zweckmäßigkeit nicht verstößt. Der praktische gegenstand allein ist allerdings noch nicht schön. Dazu gehört mehr. Ein kunsttheoretiker des cinquecento[H 1] hat sich wohl am präzisesten ausgedrückt. Er sagt: „Ein gegenstand, der so vollkommen ist, daß man ihm, ohne ihn zu benachteiligen, weder etwas wegnehmen noch zugeben darf, ist schön. Dann eignet ihm die vollkommenste, die abgeschlossenste harmonie.“

Der schöne mann? Es ist der vollkommenste mann, der mann, der durch seinen körperbau und durch seine geistigen eigenschaften die beste gewähr für gesunde nachkommen und für die erhaltung und ernährung einer familie bieten kann. Die schöne frau? Es ist die vollkommene frau. Ihr obliegt es, die liebe des mannes zu entflammen, die kinder selbst zu stillen, ihnen eine gute erziehung zu geben. Sie hat also die schönsten augen, praktische, scharfe augen und nicht kurzsichtige, blöde, die schönste stirne, das schönste haar, die schönste nase,

Anmerkungen (H)

  1. [451] wohl Leone Battista Alberti. Ich konnte das zitat nicht verifizieren.
    [WS] Leon Battista Alberti (1404–1472), De re aedificatoria (Über das Bauwesen, 1443–1452 geschrieben), Florenz 1485: Architektur ist „Harmonie und Einklang aller Teile, die so erreicht wird, dass nichts weggenommen, zugefügt oder verändert werden könnte, ohne das Ganze zu zerstören.“ Übersetzer unbekannt.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/47&oldid=- (Version vom 1.8.2018)