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volk und künstler, zwischen dem zeitgenossen und dem künstlermenschen sich auftut.

Die zeitgenossen des künstlers gehören verschiedenen perioden an. In der gewesenen monarchie verteilten sich die einwohner auf die letzten tausend jahre. Im neuen Österreich verteilen sich die menschen auf die letzten drei jahrhunderte. Sprechen diese zustände bloß für eine änderung aus ökonomischen gründen, so gebietet es der geist dem staate, dem künstlermenschen jene umgebung zu schaffen, die ihm die geringsten widerstände entgegensetzt. Die geringsten widerstände werden ihm menschen entgegensetzen, die nicht nur leiblich, sondern auch geistig seine zeitgenossen sind: menschen aus dem zwanzigsten jahrhundert.

Der staat hat daher die pflicht, das volk dem künstler möglichst nahezubringen.

Eine andere art der kunstfürsorge kann der staat nicht leisten. Keinem sterblichen ist es gegeben, den künstlermenschen, der mit uns lebt, zu erkennen. Der einzelne darf sich irren – dem staate müßte ein irrtum als sünde wider den heiligen geist angerechnet werden. Der einzelne ist nur sich selbst verantwortlich – der staat ist, dank der autorität, die er sich anmaßt, der menschheit gegenüber verantwortlich. Der einzelne kann den unterstützen, den er für den künstlermenschen hält, der staat aber würde bei einem irrtum dem ihm unbekannten genius ein martyrium bereiten. Denn eines nur lähmt dessen schaffenskraft: die bevorzugung des nichtkünstlers durch die autorität und das ihr folgende triumphgeheul der urteilslosen menge, in dem die stimme des künstlers erstickt. Gleiches recht, oder, wenn man will, gleiches unrecht für alle!

Empfohlene Zitierweise:
Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/356&oldid=- (Version vom 1.8.2018)