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Anstatt ruhig und rein objektiv das von den Zeugen Ausgesagte niederzuschreiben und die Beurteilung über die Erheblichkeit den gerichtlichen Behörden zu überlassen, trugen beide Herren ihre eigenen Anschauungen in die Vernehmungen und in die Protokollierung der Aussagen hinein. Da aber beide und mit ihnen so weit bekannt geworden ist, auch viele Ober-Behörden von vornherein die Ansicht hatten, daß die Mörder in den Reihen der Juden nicht zu suchen seien, erachteten sie alles gegen einen Juden Bekundete für unerheblich und bloß dazu angethan, den Behörden durch Verfolgung falscher Spuren unnütze Arbeit zu machen.

Daraus mag der Leser sich einen Begriff bilden, wie es bei den polizeilichen Zeugen-Vernehmungen – und die Polizei hat mindestens sieben Achtel aller Zeugen vernommen – hergegangen ist.

Wir wollen versuchen, die Erlebnisse eines gut situierten Gewerbetreibenden zu schildern, wobei wir einen thatsächlich vorgekommenen Fall im Auge haben. Der Herr, nennen wir ihn X, hatte am Mordtage und am Tage darauf sehr erhebliche Wahrnehmungen gemacht, die sowohl auf die Anwesenheit der polnischen Juden (Schächter oder Rabbiner) in der Stadt Konitz, als auch auf eine Mitwissenschaft mehrerer Konitzer Juden sich bezogen. Er erzählte seine Wahrnehmungen am Biertische, und ein Zuhörer meldete das Gehörte dem Gericht. Herr X, wird als Zeuge vorgeladen. Inzwischen haben die Juden, die jeden Zeugen mit Aufmerksamkeit verfolgten und entsprechend zu behandeln versuchten, davon erfahren, und mehrere jüdische Kaufleute drohen ihm, man werde ihn ruinieren, wenn er seine Wissenschaft wirklich aussage. Verschiedene Aufträge, die er vorher von jüdischer Seite erhalten hatte, werden ihm mit nicht mißzuverstehenden Anspielungen entzogen; alles wird versucht, um den Mann einzuschüchtern. Auf dem Polizei-Büro wird er von den Herren Deditius und Wehn gemeinschaftlich vernommen; zuerst befragt ihn der Herr Bürgermeister. In gemütlicher Weise versucht er es, durch eingestreute Bemerkungen dem Zeugen, der eingehend seine Wahrnehmungen schildert, die Unwahrscheinlichkeit klar zu machen, daß das von ihm Gehörte und Wahrgenommene mit dem Winterschen Mord in Verbindung gebracht werden könne. Der Zeuge wird stutzig, er kommt nicht einmal dazu, seine ganze Wissenschaft bis zu Ende vorzutragen, er glaubt zu merken, daß es nicht angebracht sei, etwas über einen Juden zu sagen. Aber sein Gewissen treibt ihn andererseits an, nicht nachzulassen. Die gemütliche Behandlung der Angelegenheit durch den gewandten Bürgermeister scheint ihm in diesem Fall doch nicht ganz angebracht, und er spricht weiter. Nun aber kommt Herr Wehn mit Zwischenbemerkungen in ziemlich lauter Weise: Dem Zeugen X. sei nicht zu glauben; denn er widerspreche sich mehrfach. Der Zeuge wird dadurch in seinem Glauben bestärkt, daß Aussagen gegen Juden die erwartete Würdigung bei dieser Behörde nicht finden. Er schweigt schließlich still, merkt kaum, was niedergeschrieben ist, und geht nach Hause mit dem festen, aber ganz natürlichen Vorsatze, nie wieder ein Wort seiner Wahrnehmungen von sich zu geben.

Dieser Fall ist typisch für die ganzen Zeugen-Vernehmungen der Polizei. Derartiges passierte einem besser ge-

Empfohlene Zitierweise:
Max Liebermann von Sonnenberg: Der Blutmord in Konitz. Berlin: Deutschnationale Buchhandlung und Verlags-Anstalt, 1901, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Liebermann-_Blutmord_Konitz-_p066.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)