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Ihn liebte niemand.

„Er ist von Gott gezeichnet,“ sagte die alte Kinderfrau abergläubisch, und wenn sie auch ihre Pflichten gewissenhaft an ihrem Pflegling erfüllte, so brachte sie ihm doch keineswegs Liebe entgegen. Aber sie wurde sehr gut bezahlt, und das bewog sie wahrscheinlich, trotz ihres Abscheus vor dem „Kainszeichen“ dem Kleinen wenigstens gute körperliche Pflege angedeihen zu lassen.

Die Gouvernanten und später die Hauslehrer bemitleideten den Knaben wohl, aber Liebe – Liebe erfuhr er nicht von ihnen.

Alle waren zwar freundlich und höflich mit ihm, – aber Ludwig war ein kluges Kind und wusste wohl, warum, – weil die Leute sehr gut bezahlt wurden.

Dadurch aber wurde der erste Keim von Misstrauen in das Herz des Kindes gelegt, – er wurde misstrauisch und scheu gegen jeden, der ihm ein wenig freundlich entgegen kam. Er glaubte nicht mehr an die selbstlose Freundlichkeit.

Wie ein Blitz zuckte es plötzlich in Ludwig empor: er hatte noch nie, noch nie in seinem Leben einen Kuss erhalten, einen wirklichen Liebeskuss. Und jetzt war er fünfunddreissig Jahre alt.

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Hennie Raché: 'Liebe. Roman.'. G. Müller-Mann’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1901, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Liebe_(Hennie_Rach%C3%A9).djvu/9&oldid=- (Version vom 17.10.2016)