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eine besondere Bedeutung. Die Industrialisierung höher entwickelter europäischer Staaten hat die Notwendigkeit der Kolonien als sicherer ausländischer Absatzgebiete mit sich gebracht, und es gibt jetzt keinen größeren Staat, welcher dieselben entbehren könnte. Österreich-Ungarn besitzt eben keine Kolonien, und wir sind seit einigen Jahren Augenzeugen dessen, wie die Donaumonarchie in ihrem Außenhandel auf immer größere Schwierigkeiten stößt, und wie infolge dieser schweren Lage die industrielle Tätigkeit im Lande immer mehr lahmgelegt wird. Aber auch Deutschland braucht bei seiner hoch entwickelten Industrie Gebiete, wo es seine Industrieerzeugnisse leicht verwerten und anderseits seinen Bedarf an Rohmaterial und Lebensmitteln mit geringem Kostenaufwande decken könnte. In bezug auf die Kolonien nimmt Deutschland nach Großbritannien, Rußland und Frankreich unter den europäischen Großstaaten erst die vierte Stelle ein, denn es hat zehneinhalbmal weniger Kolonien als Großbritannien, sechsmal weniger als Rußland und zweieinhalbmal weniger als das volkarme Frankreich. Bei den kolossalen Schwierigkeiten, die sich der Erwerbung von neuen Kolonien entgegenstellen, ist in der Handelspolitik moderner Staaten an die Stelle der Kolonien die sogenannte „pénétration commerciale“, die wirtschaftliche Durchdringung getreten, mit welcher zwar keine so sicheren, aber nicht minder günstige Erfolge erzielt werden. Es gilt nämlich dabei, eigenes Kapital und eigenes Material an Arbeitskräften in ein fremdes Land zu übertragen, um daselbst das eigene Kapital nutzbringend zu verwenden und den Absatz und die Verwertung einheimischer Produkte sicherzustellen. Welche Vorzüge und welche guten Aussichten sich gerade für eine derartige Tätigkeit in der unabhängigen Ukraine für die angrenzende Donaumonarchie und für das mit derselben verbündete Deutschland erschließen, braucht nach dem Ausgeführten nicht erst erörtert zu werden. Die Ukraine wird nach

Empfohlene Zitierweise:
Eugen Lewicky: Die Ukraine der Lebensnerv Rußlands (= Ernst Jäckh (Hg.): Der Deutsche Krieg, 33). Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart u. Berlin 1915, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lewicky_Die_Ukraine_1915.pdf/22&oldid=- (Version vom 24.2.2022)