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das klingt nun gar nicht nach den überheblich dekretierten Krankenberichten monistisch verbildeter Ärzte, die mechanistisch und sonst gar nicht zu denken vermögen.

Sicherlich ist manches in Panizzas hervorragendem Bericht bestreitbar. War Martin Luther wirklich ein Paranoiker? Ich glaube das nicht; vielleicht aber ist meine Anschauung durch Thomas Münzer und die soziale Betrachtungsweise unsrer Zeit so beeinträchtigt, daß ich vor Abneigung und Verachtung das sanft lebende Fleisch zu Wittenberg nicht richtig sehen kann.

Was da bei Panizza aufsteigt, ist ein Bild von großer Wahrscheinlichkeit.

Überall, wo grade Gelegenheit ist, beim Fischfang, auf der Hochzeit, bei Leichenbegängnissen, an der Zöllner-Schranke, während der Sabbath-Ruhe greift er ein, knüpft an die kleinen Tages-Ereignisse an und wirft, wie Sokrates, den harmlos Dahinwandelnden seine scharfen Antithesen in den Weg. Auch die Tricks damaliger Wundertäter – die unvermeidliche Zugabe, um sich das Air eines Übermenschen, eines Geistesgewaltigen, eines Zauberers zu geben – hat er sich alle zu eigen gemacht und beherrscht sie mit großer Bravour und Eleganz. Gar aber, wenn er eine glückliche Korona junger Landmädchen, erschöpfter Arbeitsfrauen, gutmütiger Prostituierten und naiver Taglöhner um sich versammelt hat, und darf sie die ganze zauberische Wirkung seiner innersten Herzensregungen mit einem „Selig sind die Friedfertigen! Selig sind die Armen! Selig sind, die reines Herzens sind!“ spüren lassen, und nimmt von diesen geplagten Proletarier-Naturen die Angst und den Schimpf ihres Daseins, und öffnet ihnen den Himmel, der eigens für sie, mit Ausschluß der Reichen, bereit ist – dann hat er sie alle.

Es ist das Urchristentum, das so gepriesen wird, und hier ist nichts von jener faden Bonhommie, die uns dartun will, Rousseau und Luther und Nero und Philipp von Spanien seien ebenso klein gewesen wie die Leute in einem wiener

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_232.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)