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grade die Urteile über die jüngsten Zeitgenossen sind die schärfsten. Vom Ministerium Herriot im Juni 1924: „Die armen Verwandten“, eine nicht auszuschöpfende Bosheit. Und sind nicht in diesem Diktum die zwei Männer, um die es sich handelt, beinah völlig eingefangen? „Dieser Poincaré … der weiß alles, alles, alles – aber er versteht nichts. Briand weiß nichts, nichts – aber er versteht alles.“

Mitunter haben ihn die andern ebenso scharf beurteilt, und er hat es nie übel genommen, im Gegenteil. Nach der blendenden Rede eines jungen Politikers im Palais Bourbon beglückwünschte Clemenceau seinen Kollegen und sagte ihm lächelnd: „Ein ausgezeichnetes Debut, junger Mann. Kommen Sie an mein Herz!“ Der andre verzog keine Miene: „Das kann ich nicht, Herr Präsident. Ich habe den horror vacui.“

Dieses Herz war leer. Über das Gehirn läßt sich streiten. Für den Frieden von Versailles, wo die Hartnäckigkeit eines alten Mannes die Erfüllung einer Jugendsehnsucht erzwang, ohne daß er bedachte, wie inzwischen alles anders geworden war, für diese anachronistische Tat erscheint mir nichts so bezeichnend wie jene kleine Geschichte, in der erzählt wird, daß ein Justizminister im französischen Parlament plötzlich ohnmächtig wird. Man schickte nach einem Arzt. Zufällig kam Herr Clemenceau vorbei. „Was gibt es denn? … Weiter nichts? Lassen Sie mich sehen, ich bin Arzt.“ Er untersuchte den leblos Hingestreckten, hob dessen Augenlid, zuckte die Schultern und gab die Diagnose. „Nichts. In fünf Minuten ist alles wieder in Ordnung.“ Sprachs und ging davon. Etwas später kam der diensttuende Arzt und untersuchte seinerseits. Der Minister war tot.

Vielleicht hat der Tiger selbst gewußt, daß seine Diagnosen nicht immer gestimmt haben, und in einem Schlußwort ist mehr Wahrheit, als er selber weiß. Jemand machte ihm ein

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Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_164.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)