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Der Hellseher
Erschienen im April 1930

– „Sie … sind Hellseher?“

– „Ich bin von Haus aus eigentlich Schwarzseher – nun verbinde ich diese beiden Berufe …“

– „Erfolge?“

– „Im Mai des Jahres 1914 notierte ich im Büchelchen: ‚Was wäre, wenn …‘ und wollte dartun, was sich begäbe, wenn es zu einem Kriege käme. Begeisterung Unter den Linden, allgemeiner Umfall …“

– „Wo haben Sie diese Arbeit veröffentlicht?“

– „Ich war zu faul, sie niederzuschreiben.“

– „Das kann jeder sagen. Wußten Sie denn, daß es einen Krieg geben würde?“

– „So wenig wie ich sechs Tage vor Rathenaus Tod wußte, daß er gekillt werden würde. Trotzdem stieß ich am 22. Juni 1922 einen Kassandra-Ruf aus: Was wäre, wenn …“

– „Und – wie sehen Sie heute? Hell? Schwarz? Hell? Bitte setzen Sie sich. Aber legen Sie nicht die Hand auf die Augen … mit mir müssen Sie das nicht machen. Sagen Sie nur, was Sie wissen. Putsch?“

– „Putsch trocken. Ich sehe kein Blut. Ich sehe die aufgeregte Insel Deutschland. Fascismus Lagerbräu.“

– „Erklären Sie sich näher.“

– „Wozu ein Putsch? Die Herren haben ja beinahe alles, was sie brauchen: Verwaltung, Richter, Militär, Schule, Universität – wozu ein Putsch? Immerhin … es ist Frühling … in Deutschland geschieht nie etwas, aber in den Köpfen steht: es muß etwas geschehn. Es kann schon etwas geschehn. Was wäre, wenn …“

Empfohlene Zitierweise:
Kurt Tucholsky: Lerne lachen ohne zu weinen. Ernst Rowohlt, Berlin 1932, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lerne_lachen_ohne_zu_weinen_072.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)