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Das ist so zu verstehen. Auch in der griechischen Litteratur gab es eine absolute Originalität nur bis die litterarischen Gattungen ausgebildet waren. Als das Epos seine Gestalt hatte, als Aeschylos die Tragödie, Menander die neue Komödie, Thukydides die politische Geschichtsschreibung, Plato den philosophischen Dialog vollendet hatte, da gab es auch unter den Griechen nur Nachfolger; wie in jeder Kunst von eigener und ungestörter Entwicklung. An diese Reihen schlossen sich die Römer an und setzten mit ihrer eigenen Kunst, deren Wurzeln im eigenen wie im griechischen Volksthum lagen, die griechische Produktion fort; und sie thaten es mit Ehren.

Diese Bewegung leitete Lucilius ein, der die Satire geschaffen hat; eine poetische Spielart der vielen in griechischer Produktion vorhandenen Formen, in denen ein freier Geist den Inhalt seiner Persönlichkeit darlegen konnte; entschieden italischen Blutes, doch nicht denkbar ohne die griechische Bildung in der sie ruhte. Diese innere Befreiung, die zwar die Ketten abstreifte, mit denen der Besiegte den Sieger gefesselt hatte, aber nur um so bereiter im Gefühl der eigenen Stärke den griechischen Wegweisern folgte, führte die nächsten Generationen empor. Wir besitzen das Gedicht des Lucrez: die mechanische Welterklärung Epikurs hat den Römer von Götterfurcht und Todesfurcht befreit; was für den Griechen nur eine Form der Aufklärung neben ändern, war für ihn begeisternde Offenbarung, was den Griechen aus der Unruhe des Lebens in befriedigten Quietismus lockte, weckte sein poetisches Vermögen. Er dichtete die Physik Epikurs, weil ihn der Geist ergriff, wie vor einem halben Jahrtausend die philosophischen Dichter der Griechen ihre Welterkenntniss gedichtet hatten. Das war nicht mehr griechisch und war auch nicht mehr denkbar auf griechischem Boden; solche Pflanze konnte nur auf neuem Lande gedeihen. Catull war Einer von Vielen, die in der griechischen und nun, in Sullas und Cäsars Zeiten, auch in der römischen Gesellschaft künstliche Verse verfertigten. Aber statt des abgenutzten, mit gelehrtem Beiwerk verbrämten Sentiments erklang hier, im Munde des italischen Galliers, auf einmal eine Melodie und Fülle wie sie den Griechen seit Jahrhunderten abhanden gekommen war.

Sobald die römische Produktion auf eigenen Füssen stand, musste die Prosakunst in ihr nach dem Vorrang dringen; denn da lagen die eigenen Aufgaben des Römers, in den Gebieten der juristischen und politischen, der rhetorischen und historischen Schriftstellerei. So ist es im folgerichtigen Lauf der Dinge gekommen,

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Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_10.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)