Sind lahm schon oder mausern ihre Schwingen?
Weiß nicht, doch fühl’ ich oft ein stilles Grausen. –
Wie dieser Grabschrift goldne Zeilen sagen,
So liegt allhier ein Mann, den ich erschlagen.
Ei! wie geschwätzig ist das Epitaph!
Es wünscht dem Todten einen süßen Schlaf,
Bis auferstehe seine Erdenhülle,
Auch preist es seine seltne Tugendfülle;
Zum Schlusse prophezeit die letzte Zeile,
Daß Gottes Zorn den Mörder noch ereile.
Nun, wenn die Strafe so gewiß mich trifft,
Als ihn die Auferstehung – lügt die Schrift. –
Hier ist des Mannes Standbild auch zu schauen –
Bald hätt’ ich’s übersehn – in Stein gehauen.
(Die Statue betrachtend.)
Wie seltsam steht das ernste Mondenlicht
Auf dieses Mannes albernem Gesicht!
Sein Antlitz, das von Grabgewürm zernagte,
Muß lang der Stein noch tragen, der geplagte.
Viel dummes Zeug, anstatt sich zu verstecken,
So bald’s verlebt, auf ewig dem Beschauer,
Stiehlt noch vom Stein schmarotzend sich die Dauer,
Nicolaus Lenau: Nicolaus Lenau’s dichterischer Nachlaß. J. G. Cotta, Stuttgart und Augsburg 1858, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lenau_-_dichterischer_Nachlass,_1858.djvu/80&oldid=- (Version vom 23.4.2023)