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verlor natürlich der heidnische Gott sein Ansehen und die Sänger wählten Johannes den Täufer zu ihrem Schutzpatron. Auf derselben Stelle, wo der heidnische Tempel gestanden, wurde nun dem Heiligen, den die Armenier Surp-Karapet (heiliger Vorgänger) nennen, eine Kirche erbaut, die noch heute der wichtigste Wallfahrtsort aller armenischen Volkssänger ist und bei ihnen für einen Gnadenort gilt. Nicht wenig gewann diese Kirche in den Augen des Volkes an Heiligkeit, als sich allmälig unter ihm die Sage verbreitete, der heilige Johannes liege dort begraben. Da wurde nun sein vermeintliches Grab wie der piedra della poesia in Mineo auf Sizilien oder der Stein im irischen Blarney die Zauberstelle, wo sich dem Sänger die Zunge löste, wo er Beredsamkeit und Begeisterung empfing. Noch heute wandern alle bedeutenderen Volkssänger zur Kirche des Surp-Karapet, legen ihre Kamantscha oder Geige auf das vermeintliche Grab ihres Schutzheiligen nieder und bereiten sich durch langes Fasten und Beten zum Sängerberufe vor. In früheren Jahrhunderten

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Arthur Leist: Litterarische Skizzen. Wilhelm Friedrich, Leipzig [1886], Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:LeistLitterarischeSkizzen.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)