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Darlegung handelt, ist die Feststellung dessen, was sittlich und was unsittlich in der Kunst, unendlich schwierig. Ja, es muß unmöglich dünken, dieses einfach Natürliche zu definieren und die Grenzen zwischen beidem, die von Anschauung und Gefühl unmittelbar bestimmt werden, logisch nachzuweisen.

Ich bin mir der Verantwortung, die ich mit der vertrauensvoll mir zugewiesenen Aufgabe übernommen habe, wohl bewußt, und ich kann es nicht leugnen: der Ruf drängt sich mir auf die Lippe: O, daß Geister heraufzubeschwören wären! daß ein Anderer an meiner Stelle stünde — jener Künstler, der für uns der Inbegriff der Hochachtung des Sittlichen in der Kunst ist: Schiller! Daß aus der Tiefe seines philosophischen Erkennens und aus der Kraft seines künstlerischen Schauens emporlodernd das Wort durch die deutschen Lande getragen werde, dessen wir bedürfen! Daß durch dieses Wort die Gluth zugleich der Empörung und der Begeisterung in tausenden und abertausenden von Herzen entfacht würde! Dann, meine ich, würde es bald anders bei uns aussehen. Ich glaube in diesem Augenblick seine Stimme zu vernehmen: wohin ist man in Deutschland gekommen, was ist aus dem herrlichen erbeigenen Gut unseres Volkes, was ist aus dem Schamgefühl geworden? Wohin wir schauen in der Öffentlichkeit, ob wir in den Straßen an den Läden vorbeigehen, in denen uns die Bilder der illustrierten Blätter feilgeboten werden, ob wir die Ausstellungen besuchen, ob wir uns in das Theater oder in sonstige Schaulokale begeben, ob wir die neu erscheinenden Bücher, seien es deutsche oder aus fremden Sprachen übersetzte,

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)