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Und endlich könnte geäußert werden: «Über die ganze Angelegenheit zu reden, ist zwecklos. Eine Entscheidung darüber, was unsittlich in der Kunst, ist unmöglich, denn wer soll darüber entscheiden?» Diese Frage ist es allerdings, die uns Alle beschäftigt. Wer hat das Urtheil abzugeben? Auf keinen Fall, erwidere ich zunächst, diejenigen, die einer bestimmten Partei angehören, namentlich nicht die Künstler oder Literaten, welche der modernen Lehre anhängen und die Ansicht einer schließlich nur kleinen Gesellschaft vertreten. Wahrheit oder Falschheit dieser Lehre steht ja eben in Frage. Wer also dann? Nun, ganz allgemein gefaßt: der Gebildete. Es wäre denn doch traurig und unberechtigt, anzunehmen, es sei in unserer Zeit in Deutschland schon so weit gekommen, daß wir an dem natürlichen Gefühl und der freien Gesinnung zu zweifeln hätten. Wenn daran nicht mehr zu appellieren wäre, wenn wir keinen Glauben mehr in das gesunde Urtheil, nicht allein allgemein der Gebildeten, sondern auch unserer Richter setzen dürften, dann könnten wir überhaupt alle Kulturarbeit aufgeben. Ich behaupte: ein solches gesundes Urtheil, sobald der Einzelne Vertrauen zu sich selbst gewinnt, ist überall noch vorhanden und wir können uns getrost darauf verlassen. Aber darauf freilich kommt es an, daß wir den Aussagen unseres Gefühles wieder Glauben schenken.

Dieses Vertrauen ist erschüttert. Die Prinzipien der Modernen sind mit so diktatorischem Ansprüche auf ausschließliche Gültigkeit aufgetreten, daß man sich scheut, seine eigene abweichende Meinung auszusprechen. Man will nicht zurückbleiben, man will kein Philister sein und man

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)