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als es neuerdings gelehrt wird. Wenn Jene behaupten: an sich Unsittliches, wenn es nur künstlerisch aufgefaßt und technisch geistreich behandelt wird, könne Vorwurf eines Kunstwerks sein, so sage ich: Nein. Das Unsittliche ist nicht künstlerisch aufzufassen und zu gestalten. Aus der auf Gebildete ausgeübten unsittlichen Wirkung eines Werkes ist auf das Unkünstlerische desselben zu schließen. Es handelt sich nicht um Kunst, sondern bloß um Virtuosität, nicht, wie es Goethe ausgedrückt hat: um Kunstwerke, sondern um Kunststücke. Gegen diese Thatsache kommt kein Sophismus auf, weil es eine solche ist, die in dem Gefühlsbewußtsein der ganzen gebildeten Welt, soweit sie nicht irregeleitet ist, lebt. Und würden auch die Argumente, die ich heute vorgebracht, widerlegt, die Thatsache ist nicht zu widerlegen. Der Standpunkt, den wir eingenommen haben, ist unangreifbar.

Aber schon höre ich gleichwohl Einwände. Der erste lautet: «das ist deine subjektive Meinung!» Ich erwidere: nein, es ist nicht bloß meine subjektive Ansicht, sondern ich weiß mich in meiner Auffassung der Kunst eins mit allen großen Künstlern großer schöpferischer Epochen, ich weiß mich eins mit den großen Ästhetikern aller Zeiten, ich weiß mich aber auch eins mit der großen Mehrheit aller Gebildeten in unserem Lande.

Und weiter wird mir entgegnet: «Du sprichst beständig von Gebildeten. Kompetent in Kunstfragen ist aber nur der in künstlerischer Betrachtung Geübte und fein Ausgebildete: der Kunstkenner. Und trotz aller deiner Ausführungen darf

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/36&oldid=- (Version vom 1.8.2018)