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vom Künstler keusch empfundene Nackte, wird niemals den Eindruck des Unsittlichen hervorbringen. Es sei denn auf künstlerisch gänzlich Ungebildete und Unbegabte, auf welche als Ausnahmen keine Rücksicht zu nehmen ist. In dem Bereiche des Naturalismus treten die Erscheinungen auf, die wir als schamlose empfinden. In der Stilbildung wie in der naturalistischen Darstellung giebt es nun aber wiederum sehr verschiedene Möglichkeiten und Grade. Höchster Stil zeigt sich in der vollkommenen Harmonie der Schönheit, krassester Naturalismus in grauenhafter Verdeutlichung des unschönen Wirklichen. Also, ich möchte sagen, auf das Prinzipielle der Richtungen kommt es hier an — darauf, ob das Künstlerische in der Erhebung über das wirkliche Individuelle oder in dessen getreuer Nachbildung gesucht wird.

Dies bedarf aber noch einer näheren Erörterung. Eine Betrachtung einfachster Art, die den herrschenden verworrenen Ansichten gegenüber wichtig und nothwendig erscheint, hilft uns weiter. Es ist doch sehr auffallend, daß das Nackte in unserer heutigen Kunst eine so große Rolle spielt. Kann man sich doch in seiner Wiedergabe gar nicht genug thun. Was giebt denn die Berechtigung hierzu? Unsere Zivilisation doch gewiß nicht. Offenbar handelt es sich um eine Reaktion des Natürlichen gegen eben diese Zivilisation und Konvention. Dies zugegeben, spielt aber in sehr vielen Fällen zweifelsohne eine unverkennbare Absichtlichkeit mit, und zwar eine solche bedenklicher Art. Auf diese wirft ein Vergleich mit der griechischen Kunst, in welcher dem Natürlichen wahrlich mit größter Freiheit gehuldigt wurde,

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/32&oldid=- (Version vom 1.8.2018)