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Rechte geltend macht. In zweifachem Sinne also schließt das Ästhetische unsittliche Vorstellungen aus.

Bei diesem Allgemeinen dürfen wir es aber nicht bewenden lassen. Es gilt, die Erscheinungen, es gilt das als unsittlich in der Kunst zu Bezeichnende noch näher zu bestimmen. Und damit gelangen wir zu Fragen, die nur mit der allergrößten Vorsicht behandelt werden dürfen. Hier steht Einer vor Ihnen, der in den Tragödien des Ödipus und Siegmunds und Sieglindes in der «Walküre» erhabenste Kunst verehrt. Einer, den die Unerhörtheiten der Komödien des Aristophanes nicht erschrecken und den die derbe Ausgelassenheit der holländischen Maler herzlich ergötzt. Einer, der sich an der Io des Correggio und an den römischen Elegien Goethes als an unvergleichlich vollendeten Schöpfungen entzückt. Warum? Einmal, weil er im Genie die unerhörte Kraft gewahrt, welche zu kühnsten, nur bei ihm denkbaren Wagnissen berechtigt, und dann, weil gerade in jenen Werken die siegreiche Macht idealisierender Auffassung erscheint. Derselbe aber, der in solchen, sei es humoristischen, sei es erhabenen Schilderungen des Sinnlichen die Unschuld des wohl mit dem Natürlichen, aber nicht mit dem Gemeinen sich befassenden künstlerischen Geistes staunend verehrt, derselbe wendet sich mit der ganzen Empörung seines künstlerischen Gefühls von den charakterisierten modernen Erscheinungen ab.

Was ist an ihnen unsittlich? Zunächst im Hinblick auf das Gegenständliche Alles, was unzüchtig, was raffiniert unnatürlich und was widernatürlich in Bewegungen, Handlungen und Trachten ist — die Frau,

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/29&oldid=- (Version vom 1.8.2018)