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Dasein, wirkt auf unsere gesamte Lebensanschauung ein. Es giebt uns eine Weihe, verleiht uns das Bewußtsein höchster Möglichkeiten, erschließt uns ein heiliges Bereich, in dem wir als Geläuterte unsere eigentliche Heimath suchen und finden. Aber nicht allein in diesem, sondern auch in einem zweiten Sinne ist von einer moralischen Wirkung der Kunst zu sprechen. Sie verschafft uns nämlich auch Erkenntniß, denn sie führt uns als rein Schauende und Fühlende hinein in den verborgenen Zusammenhang aller Erscheinungen. Sie schärft unseren Blick für die Wunder und Geheimnisse der Tiefe, sie erfüllt uns mit der Gewißheit von dem großen Einssein, das uns sonst durch den verworrenen Widerstreit der Individuen verhüllt ist. Sie weist uns auf das Wesen der Dinge hin, sie macht uns, wie Richard Wagner gesagt hat: «Wissend durch das Gefühl!»

Also keine moralische Absicht, aber eine moralische Wirkung !

Und damit sind wir schließlich vor die Beantwortung der an uns gerichteten Frage gestellt. Der Frage: wie verhält es sich mit allem dem, was heutzutage, als künstlerisch gerühmt, doch von unserem Gefühl als unsittlich verdammt wird? Wer ist denn im Rechte, der Vertheidiger oder der Gegner solcher «Kunst»? Es ist eine der ungeheuerlichsten Thatsachen — ich wiederhole es — , daß entgegen dem natürlichen Gefühl solche Darstellungen durch formalistische Thesen gerechtfertigt werden sollen, daß solche Behauptungen Glauben und Verbreitung finden können. Ja, daß alle diejenigen, die eine andere Kunstanschauung haben, von

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)