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Seite Schillers und Goethes, welche wohl im Geiste aller genialen Schöpfernaturen gesprochen haben, treten. Wir sagen: Echte Kunst geht nicht aus einer moralischen Absicht hervor, wohl aber hat sie stets eine moralische Wirkung. Nicht aus einer moralischen Absicht, denn eine Absicht, eine Tendenz ist als ein Verstandesgemäßes mit der intuitiven Konzeption unvereinbar. Wo eine Absicht herrscht, da ist kein reines, aus innerem Ausdrucksbedürfniß hervorgehendes Schauen. Aber die Wirkung des echten Kunstwerkes ist sittlich. Hierüber keinen Zweifel zu lassen, ist von größter Wichtigkeit.

Die Wirkung ist sittlich. Erstens, weil das Kunstwerk eine Verklärung der Sinnlichkeit bedeutet. Aus sinnlicher Anschauung erwächst die künstlerische Schöpfung. Ich betonte die Bedeutung der Sinnlichkeit im Kunstschaffen und betone sie laut nochmals. Aber, was sich in ihm durch die gestaltende Kraft vollzieht, ist eine Vergeistigung der Materie, ist — ich möchte hier das in so verschiedener Weise ausgelegte Wort des Aristoteles gebrauchen — eine Katharsis, eine Reinigung. Sie ist es, denn durch unsere Erhebung in die Regionen reinen Anschauens und Fühlens werden wir ja dem egoistischen Wollen entrückt. Jene Wonne künstlerischer Entzückung, die wir ersehnen, schließt das beseligende Empfinden einer Befreiung von Allem, was unser ganzes Leben sonst beängstigend und beunruhigend beherrscht, in sich. Und diese Freiheit, diese große wunderbare Selbstentrückung zu erfahren, ist ein Moment von hohem sittlichen Werthe. Denn wir erleben etwas, was wir sonst nicht erleben. Und dieses Erlebniß wirkt hinaus in das alltägliche

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)