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und Keuschheit. In diesen Eigenschaften könnten wir die entscheidenden Thatsachen sittlichen Lebens zusammenfassen. Wollten wir nun aber Sittlichkeit nach allen ihren Äußerungen hin berücksichtigen, so würde der Umkreis unserer Erwägungen ein sehr weiter. So wichtig auch die Prüfung von Redlichkeit und Wahrhaftigkeit im Hinblick auf die Kunst wäre — sie bleibe heute ausgeschlossen. Wir beschränken uns auf die Betrachtung jener Seite der Sittlichkeit, welche in unserer Zeit als besonders bedroht und ernsteste Erwägungen hervorrufend erscheint. Wir beschränken uns auf die Frage der Sittlichkeit, die sich auf das sinnliche erotische Leben bezieht. Und indem wir das Wort Sinnlichkeit aussprechen, wird sogleich die Unterscheidung: sittliche und unsittliche Sinnlichkeit notwendig.

Die Sinnlichkeit ist etwas Herrliches. Ein wunderbar und geheimnißvoll Gewaltiges! Sie ist das Schöpferische! Das Schöpferische in dem großen und gesamten organischen Dasein, das Schöpferische in der Kunst! Wer dieses Wort ausspricht, sollte es immer mit einem Gefühl schrankenloser Bewunderung des im Leben waltenden Göttlichen thun. Aber dasselbe Wort, bezogen auf zügellose Begierden, kann auch einen ganz anderen Klang haben. Welcher Art ist die des Menschen würdige, die sittliche Sinnlichkeit?

Der Mensch haftet tief in dem Bereiche des allmächtigen Naturwaltens und erkennt sich, als eines der zahllosen in blindem Drange Leben erzeugenden Geschöpfe, der Nothwendigkeit unterworfen. Derselbe Mensch aber ist zugleich ein Herrscher über die Natur, ein Freier, und das ihm vor anderen Geschöpfen Vergönnte ist diese geistige Herrschaft

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)