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uns vorgeht, wenn wir einen künstlerischen Eindruck erhalten. Dessen Eigenthümlichkeit läßt sich in einfachster Weise so ausdrücken: er macht uns unserer selbst vergessen. Dies ist das Charakteristische, was Jeder zugeben wird. Was aber heißt dies? Es heißt soviel, als: unser selbstisches Begehren und Wollen schweigt im Augenblick der Versenkung in ein Kunstwerk. Wir verlieren uns in Anschauung und in der durch diese hervorgerufenen Gefühlsbewegung. Dies ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: wir sind der Wirklichkeit entrückt. Dies ist es, worin die unvergleichliche Bedeutung, die Wunderkraft der Kunst besteht. Wir werden von unserem egoistischen Ich befreit, so wie der Künstler, dem wir die beglückende Erfahrung verdanken, konzipierend von sich selbst befreit ist.

Und endlich ein Drittes über das Wesen der Kunst, was für unsere Einsicht nothwendig ist: die Bestimmung der Art und Weise, in welcher — auch hier giebt es in den Künsten Gemeinsames — der Stoff zu einem ästhetischen Eindruck gebracht, also gestaltet wird. Es geschieht durch die Einheitsbildung, durch die Einbeziehung des Mannigfaltigen, Gesonderten in ein einheitlich wirkendes Ganzes. Und hiermit hängt weiter unmittelbar zusammen, daß die Kunst nicht an dem einzelnen Individuellen haften bleibt, sondern daß sie ein Allgemeines, ein Typisches schafft. Denn Sie mögen nun welches echte Kunstwerk welcher Zeit immer befragen: stets wird sich Ihnen ein Typisches zeigen. Wenden Sie nicht hiergegen mit Manchen, die sich nicht genügend mit diesem Problem beschäftigt haben, ein, daß der Satz nicht

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)