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Verschiedenheit also im Grunde genommen auf die Verschiedenheit des Gegenständlichen zurückzuführen ist. Es ist doch ein großer Unterschied zwischen dem ästhetischen Eindruck, den eine Statue der Athene und dem, welchen ein Stillleben von Blumen — beide in ihrer Art als vollkommene Schöpfungen gedacht — auf uns hervorbringt, denn Vorstellungsassoziationen ganz verschiedener Art machen sich bei der einen und dem anderen geltend.

Vieles von dem bezüglich der bildenden Kunst Gesagten ist unmittelbar auch auf die Dichtkunst, vornehmlich auf die dramatische Bühnenkunst mit ihren sichtbaren Erscheinungen anzuwenden, doch kommt hier auch Anderes in Betracht, was erst durch die Musik verständlich wird. Bei dieser freilich dürfen wir von einem Gegenständlichen im Sinne der Welt der Erscheinungen, also von einem Dinglichen, wie bei der bildenden Kunst, nicht sprechen, wenn auch bei tieferer Betrachtung die Beziehungen der Gefühle zu Erscheinungsvorstellungen nicht zu verkennen sind, sondern hier fällt der Gefühlsgehalt und das Gegenständliche zusammen: die Gefühle selbst sind in der Tonkunst das Gegenständliche. Auch hier, in dieser ganz dem Innern zugewandten Kunst, giebt es ein Gegenständliches und ist es von maßgebender Bedeutung.

Von der bildenden Kunst einerseits, von der Musik aus andererseits betrachtet, stellt sich nun die an die Phantasie sich wendende Poesie als eine Vereinigung gleichsam jener beiden Arten des Gegenständlichen dar. Sie verbindet die vom Gesichtssinn her gewonnenen Bilder der Welt der Erscheinungen mit den Gefühlen, welche, durch das Gehör

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Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)