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hierbei die bildende Kunst oder die Dichtung ins Auge fassen, ich finde nirgends ästhetische Thatsachen, die sich mit denen vergleichen ließen, welche heute die dominierenden sind und als Höchstes hingestellt werden.

Welches aber ist, in kurze Worte gefaßt, die ästhetische These, welche die uns beängstigenden Erscheinungen heiligen soll? Es ist der Satz : das Gegenständliche in der Kunst ist gleichgültig, es kommt bei ihr bloß auf die Auffassung und formale Behandlung an. Etwas Wahres ist in dieser Behauptung enthalten, und daß es zum Ausdruck gelangte, ergab sich wohl mit Nothwendigkeit. Wir Deutsche haften mehr als Andere an dem Darstellungsstoffe in der Kunst. Lesen Sie, was Goethe und Schiller darüber sagen; immer wieder fragen sie sich: wie kann durch Gestaltungsweise und Formenbildung das «Stoffartige» bewältigt werden? Es war natürlich und geboten, daß auch in der bildenden Kunst, wie in der Dichtkunst, die Bedeutung des Formalen gegenüber dem Interesse an dem Gegenständlichen betont ward. Und doch ist jener Satz grundfalsch. So falsch, als wenn man sagen wollte: die Form ist gleichgültig in der Kunst. Und dies mit voller Deutlichkeit einzusehen, gilt es zunächst. Es darf kein Zweifel darüber bleiben, daß heute zwei sich durchaus widersprechende Auffassungen der Kunst einander gegenüberstehen. Die eine vertreten von jener Richtung, die wir kurzweg — obgleich gewiß nicht alle neueren Künstler ihr angehören — als die moderne bezeichnen dürfen. Die andere von solchen, die ihre ästhetischen Anschauungen den vollkommenen Kunstwerken der Vergangenheit vom Alterthum bis auf die neuere Zeit entnehmen.

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)