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manchem geistigen Gebiet, vornehmlich aber auf dem der Kunst, anmaßliche Herrschaft beanspruchen. Sie erklingen von Ohr zu Ohr und von Mund zu Mund und bemächtigen sich der besinnungslosen verwirrten Geister. Phrasen, die das gerade Gegenteil von Allem lehren, was uns durch unsere großen Kulturschöpfer und -führer verkündet worden ist. Insonderheit jene von der «Individualität», die man mit so vielen anderen gefährlichen und die Sittlichkeit untergrabenden den Schriften Nietzsches entnahm.

Da heißt es: Alles käme darauf an, seine Individualität auszubilden. Ja, freilich kommt es darauf an. Aber worin wird die Stärke und Größe der Individualität gesucht? In dem Betonen des Egoismus! Ein verhängnisvollster und zugleich unsinnigster Wahn! Als ob nicht zu allen Zeiten große, die Kultur fördernde Individualitäten eben diejenigen gewesen sind, welche die Selbstsucht überwanden, sich selbst über hohen unpersönlichen Aufgaben vergaßen. Nur aus der Kraft der liebenden Hingabe, sei es an andere Menschen, sei es an Ideen, entspringt das schöpferische Vermögen. Also gerade der Gegensatz von dem, was gepredigt wird und die Sittenlosigkeit zur Folge haben muß, ist das Kennzeichen der großen Individualität, die man, beiläufig gesagt, als ein Geschenk der Götter besitzt und, wohl stärken, aber niemals sich selbst mit Bewußtsein erwerben kann.

Und so jagt nun das Leben von Tag zu Tag dahin und so möchte es Jeder möglichst ausbeuten im Sinne selbstischen Genusses, und so steigert sich diese Hast, bis alle sinnige Einkehr, alle innerliche Beschäftigung mit dem Großen, was uns Deutschen in verschwenderischer Weise

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)